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Big Brother: Der öffentliche Tod

Jade Goody ist Britin, 27 Jahre alt, zwei Söhne, Diagnose: Krebs. Sie war bei "Big Brother", jetzt stirbt sie vor laufendenden Kameras. Als Lebende wurde sie belächelt und beschimpft, als Sterbende gepriesen.

Als Lebende war Jade Goody eine nationale Berühmtheit, als Sterbende ist die Britin ein Weltstar. Selbst Oprah Winfrey und Larry King wollen noch einen Auftritt mit ihr ergattern. Als Lebende wurde sie erst übersehen, dann belächelt, verlacht, beschimpft. Als Sterbende wird sie mit tränenden Augen gepriesen. Der Premierminister ist in seinen Gedanken bei ihr, der Bischof nennt ihre Stärke beispielhaft, die Krebsgesellschaft dankt dafür, dass sie Vorsorgeuntersuchungen wieder populär gemacht hat. Es ist eine ganz normale Heiligenkarriere, die Jade Goody durchläuft. Mit dem Unterschied, dass sie die Wende erlebt. Wenn auch nur gerade noch so eben.

Jade Goody ist 27 Jahre alt, Mutter von zwei Söhnen im Alter von vier und fünf, sie hat vor ein paar Tagen, sozusagen in letzter Minute, geheiratet, sie stirbt an Krebs, Gebärmutterhalskrebs. Goody wurde vor sieben Jahren in Großbritannien weit bekannt als Insassin des Big-Brother-Hauses, süß, aber Gott sei Dank doof. Sie war der Sympathieproll der Sendung, das nicht ganz unhübsche Mädchen, das man irgendwie gern haben und dem man sich dennoch überlegen fühlen konnte. Jade Goody fragte, ob man auch in Amerika Englisch spricht, sie verwechselte das Wort „Taktik“ mit „Tictac“, sie verlegte East-Anglia nach „irgendwo im Ausland“, das ist so, als glaube Verona Pooth, Niedersachsen sei eine Insel im Mittelmeer.

Das Publikum klopfte sich auf die Schenkel und rollte die Augen, dann schlug es auf Goody ein. Das war, als sie ihre Mitinsassin, die indische Schauspielerin Shilpa Shetty, Shilpa „Poppadom“ nannte. Ein Poppadom ist ein indisches Brot, und Goody lernte, als Beiname für eine Inderin ist das Brot Rassismus. Sie lernte es auf die harte Tour. Ihre Mitmenschen schmissen sie nicht nur aus der Sendung, sie stürzten sie radikal aus der eben noch reichlich gewährten Gnade. Dieses Wechselbad von Extremen muss Goody als bekannt erlebt haben, mit großer Wahrscheinlichkeit schreckte es sie umso mehr.

Sie wuchs auf in einem Londoner Underdog-Viertel. Ihre Mutter war cracksüchtig und verlor einen Arm und ein Auge bei einem Motorradunfall, der Vater spritzte sich Heroin und saß wegen Diebstahls im Knast. Er verließ die Familie, als die Tochter zwei Jahre alt war, wenigstens dieser Teil ihrer Biografie kann nicht von Nachteil gewesen sein. Das Kind schaffte er nur selten in die Schule, es wurde zu Hause gebraucht, in diesem und jenem Sinne. Es versorgte die jüngeren Geschwister und rollte der Einarmigen die Joints. Auch der Vater starb schließlich öffentlich, auf dem Klo eines Fast-Food-Restaurants.

Man liest und weiß: In Goodys Geschäft mit dem Publikum ist Geld möglicherweise nicht die ihr wichtigste Währung. Sie erbettelte sich Absolution unter Tränen und leistete Sühne als Insassin im indischen Big-Brother-Äquivalent „Bigg Boss“. Im August des vergangenen Jahres ließen ihr die Bigg Bosse dann vor laufender Kamera und eingeschalteten Mikrofonen mitteilen, sie habe Krebs. Goody glaubte für einen Augenblick an einen PR-Trick. Es war kein Trick, es war wahr. Fast denkt man: Die Inder haben sich über Gebühr revanchiert. Aber dann ist man womöglich Rassist.

Seither ist Goody überall, an jedem Tag. Aus jeder Nachrichtensendung, von jedem Zeitungsständer lacht, weint und leidet Jade. Sie leidet auf Augenhöhe. Sie schafft es selbst in die Sechs-Uhr-Nachrichten der Iren, die aus nahezu tausendjährigen Gründen dem gesellschaftlichen Treiben auf der Nachbarinsel zurückhaltend gegenüberstehen.

Ich kenne sie erst, seit sie kahlköpfig ist, vorher hatte ich sie nicht bemerkt. Frauen mit Haaren gibt es auf Zeitungstiteln so viele. Seit sie kahlköpfig ist, ist sie unverwechselbar. Sie ist „Die sterbende Jade Goody“, „Der sterbende Big-Brother-Star“. Sie ist die täglich Sterbende, deren Sterben man nicht entkommt. Und die Presse, dieses allgegenwärtige Gutachtergremium über Recht und Rechtschaffenheit, weiß noch immer nicht und vielleicht immer weniger, wie es mit Goody umgehen soll oder darf, oder beides.

Darf man wie der Premier mit ihr fühlen? Soll man sie im Chor mit dem Bischof und der Krebsliga loben? Muss man nicht eher auf sie schimpfen?! Ihren öffentlich vorgeführten Verfall als Vermarktung verdammen, sie kassiert doch bei jedem Interview, für jedes Foto – sogar ihre Hochzeit hat sie verkauft, für 700 000 Euro an ein Banalmagazin, angeblich, um die Zukunft der Söhne zu sichern. Soll man sie deswegen schon entlassen?

Goody sagt nicht nur Dummes. Und es gibt große Momente, in denen wirken die Medienmenschen, die sie so oft und gern als peinlich verschreien, weit peinlicher als sie. In einem Fernsehinterview, kurz nach ihrer Rückkehr aus Indien, sagt sie auf die Frage der unerträglich verständnisvollen und mitleidenden Moderatorin, wie Goodys Mutter auf die Nachricht vom Krebs reagiert habe: „Schwierig. Ich glaube, meine Mutter versteht nicht, wie ernst es ist. Alles, was sie sagte, war, du schaffst das schon, du bist stark. Aber ehrlich, wie stark soll ich sein? Ich bin nicht aus Eisen. Ich hätte einfach nur gern gehabt, dass sie mich in die Arme nimmt.“

In diesem Interview hat sie noch Haare. Sie glänzen und reichen ihr bis über die Schultern. Sie trägt eine bunt gemusterte Tunika und sitzt sehr aufrecht auf der Couch. Sie lächelt. Sie lächelt, als sie erzählt, wie furchtbar es war, vor laufender Kamera von der Bedrohung in ihrem Leib zu erfahren. Sie lächelt, als sie von der nicht begreifenden Mutter erzählt. Sie lächelt, als sie sagt, dass der Krebs doch weiter fortgeschritten ist als zunächst von den Ärzten angenommen: „Er ist aus der Gebärmutter bereits in die Blutbahn gedrungen.“ – „Ja, tatsächlich, das ist er, nicht wahr?“, fragt die Interviewdame und zieht ein bekümmertes Gesicht.

Sie lehnt sich weit zu Goody hinüber, und ich fürchte, dass sie ihr gleich eine Hand auf das Bein legen und anfangen wird zu weinen, aber sie hat ihre Gefühle im Griff. Ihr Mitleiden ist ihrem Geschäft angemessen dosiert. Sie sagt: „Und Sie werden sich ihre Gebärmutter herausnehmen lassen müssen, im Alter von wie vielen, oh Gott, von nur 27 Jahren.“ Es ist der Augenblick, in dem Goody zögert. Sie sieht die Interviewerin an und an ihr vorbei. Sie dreht die Armbänder an ihrem Handgelenk. Sie dreht und dreht, und dann nickt sie. Ja, sagt sie, sie wird ihre Gebärmutter verlieren. Und möglicherweise verliert sie viel mehr.

Und schon wieder sitzt sie einer Frau gegenüber, die nicht begreift, wie ernst es ist. Oder der Todkranken ihr Begreifen verweigert. Auch darüber lächelt die Todkranke hinweg. Sie ist ein tapferes, braves Mädchen. Sie hat früh und in den vergangenen Jahren immer wieder gelernt: Zuneigung ist ein zerbrechliches Gut. Jade Goody ist nicht mehr in der Position, sie noch einmal zu riskieren.

Die Moderatorin möchte über jenen Moment im Big-Brother-Haus sprechen, als ihr Gast von dem Krebs erfuhr. Man hatte sie über Lautsprecher in den „Beichtraum“ gerufen. Jade sagt: „Ich dachte gleich, oh mein Gott, die mögen mich hier nicht, die schmeißen mich jetzt raus.“ Man hört: Es war die ihr schlimmste vorstellbare Nachricht. In der Sendung sieht man sie vor dem Sessel im Beichtraum hocken, am Ohr ein Telefon, sie lächelt, sie lauscht, verzerrt das Gesicht, hebt die Hand vor den Mund, sie wischt sich die Augen, sie macht laute Schluchzgeräusche, eine Marktschreierstimme tönt Indisches über sie hinweg, man versteht „Jade“, „Doktor“ und „London“. Der Augenblick ist auf Youtube abrufbar. Man sieht und hört und glaubt, wenn Jade Goody sagt: „Ich dachte, das ist ein Publicity-Trick.“

Wer will sich vorstellen, dass so etwas tatsächlich möglich ist? Dass Menschen so weit gehen? Dass sie nicht ein Mindestmaß an Gespür, an Respekt für den Anderen haben? Dass sie nicht Verantwortung übernehmen und die Kameras und die Mikrofone aufstellen, wenn der Gefilmte so offensichtlich nicht in der Lage ist, darum zu bitten? Und man fragt sich: Ist das Indien, gründet das in einer Kultur, in der ein Menschenleben weniger gilt (hat jemand „Slumdog Millionaire“ gesehen?), in einer Mentalität, die wir nicht verstehen? Oder wäre so ein Moment auch im deutschen Fernsehen möglich? Und was ist es, das diesen Moment ermöglicht: Geldgier? Neugier? Oder die Angst vor dem Tod und dem Sterben und die Unfähigkeit, mit beidem umzugehen?

Goody wird nicht entlassen. Die Mitmenschen wüten weiter. Erst habe sie ihr Leben vermarktet, jetzt kassiere sie schamlos für ihren Tod. Sicher, wer von ihnen nicht? Jade Goodys Leben und Sterben und wie sie mit beidem umgegangen ist oder umgeht, sorgt auch auf meinem Tisch für Brot und Butter. Ich habe diesen Essay geschrieben, weil ich sicher sein konnte, dass er sich verkauft. Ich habe nicht auf mein Honorar verzichtet. Und der Tagesspiegel hat nicht auf den Abdruck verzichtet. Und der Kioskinhaber lehnte nicht, weil er ein besserer Mensch sein möchte, den Verkauf dieser Zeitung ab.

Jade Goody erreicht zuverlässig den Leser, das Publikum. Und auch der Leser, der später mit der Familie, den Freunden, den Kollegen zusammensitzt und diese verflixte Geschichte diskutiert und seine Meinung gesagt und gehört haben will, hat dann an Goodys Leben und Sterben im Scheinwerferlicht profitiert. Er hat kassiert. Seine Währung sind seine Zuhörer, ist die Aufmerksamkeit, die er gewinnt. So schließt sich der Kreis. Das Leben ist ein Geschäft. Der Tod ist es allemal.

Während die Medienmenschen und ihre Kundschaft noch grübeln, ob Goody es wohl auch noch fertigbringen wird, vor aller Fernsehzuschaueraugen zu sterben, tut sie das längst. Ein Dokumentarfilm zeigt Goody in ihrem Badezimmer, das Haar jetzt kurz und nur noch spärlich. Die Mutter kommt herein und will zeigen, wie sie ihren Verfall mit einem Turban kaschieren kann. Goody weint. Sie krümmt sich, auf dem Toilettendeckel sitzend, zusammen. Sie greift wie eine Versinkende nach der verbliebenen Hand der Mutter, sie sagt, kaum dass ihre Stimme zu hören ist: „Ich will das nicht.“

Man weiß, sie spricht nicht von ihrem ausfallenden Haar und nicht von dem Turban. Zeitungsfotos und Nachrichtenbeiträge zeigen die Kahlköpfige immer wieder, wie sie in einen Krankenwagen gehoben wird, zunächst noch im Rollstuhl, nur Tage später schon auf einer Trage, sie ist blass, die Augen sind dunkel gerändert, aus ihrem Körper hängen Schläuche. Das alles ist Sterben. Was braucht es, damit wir es als solches erkennen?

Max Clifford, Goodys Agent, der jetzt, wo ihr Zustand bisweilen einen Rest Anstand gebietet, ersatzweise die Prügel bezieht, sagt, er werde Goody „bald“ empfehlen, sich von den Kameras und Mikrofonen zurückzuziehen: „Genug ist genug.“ Goody selbst hat gesagt: „Ich habe mein Leben vor den Kameras geführt, es gibt keinen Grund, sie jetzt auszuschalten.“

Es gibt auch keinen Grund mehr, sie noch anzulassen. Nicht jenen angeblich so offensichtlichen, banalen. Jade Goody braucht kein Geld mehr. Für ihre Söhne hat sie genug gesammelt, deren Lebensunterhalt und Schulbesuch ist bis zu ihrem 16. Geburtstag gesichert.

Aber: Wenn das Verlangen nach Aufmerksamkeit auch ein Versuch ist, der Einsamkeit zu entkommen, dann machte Jade Goodys Verlangen nie mehr Sinn als jetzt. In seiner Einsamkeit ist das Sterben beispiellos. Gut vorstellbar, dass die Kameras, die Mikrofone, die vor dem Haus und dem Krankenhaus versammelten Journalisten, ja vielleicht das ganze teilnehmende Publikum für Jade Goody dem Sterben etwas von dieser Einsamkeit und ihrem Schrecken nehmen. Dann hatte dieser scheinbar so unsägliche, unmenschliche Zirkus einen sehr gnädigen, menschlichen Sinn.

Antje Joel

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