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Wie viel Zufall wird es im Leben noch geben, wenn wir (fast) alles berechnen können?

© Mike Wolff

Big Data: Der Zufall ist tot, es lebe der Zufall

Supercomputer beleben den Traum vom absoluten Weltverständnis neu. Doch das Ungewisse wird uns noch lange erhalten bleiben. Weil die Physik es so will. Und weil wir es heimlich lieben.

Von Anna Sauerbrey

In den 70er Jahren wurde Südengland von einer Kaninchenplage heimgesucht. Die kleinen Nager vermehrten sich, nun, ja, wie Kaninchen eben und fraßen die Äcker ratzekahl. Die britische Regierung bekämpfte die Plage mit einem Virus. Man glaubte, die Methode sei sicher. Das Virus vermehrte sich beinahe ausschließlich im Körper von Kaninchen, es machte sie träge, so dass sie häufiger Opfer von Raubtieren wurden. Dennoch endete die gezielte Infektion der Kaninchen mit dem Verschwinden einer Schmetterlingsart und dem Rückgang einer Ameisenpopulation. Was war geschehen?

Parallel zur Aussetzung des Virus waren die Viehpreise gesunken. Einige Bauern stellten die Viehzucht ein. Das Gras auf den Äckern wurde nun sowohl von weniger Kaninchen als auch von weniger Vieh kurz gehalten, was wiederum zum Rückgang einer bestimmten Ameisenart führte, die sich nur in kurzem Gras wohlfühlte. Die Ameisen aber lebten in Symbiose mit einer bestimmten Schmetterlingsart, deren Eier die Ameisen in ihren Bau schleppten und pflegten. Die Abhängigkeiten in dem Ökosystem führten letztlich zum Verschwinden eines Schmetterlings, wo eigentlich nur die Kaninchen hätten verschwinden sollen.

Das Beispiel stammt aus einem Buch des Physikers und Wissenschaftsjournalisten Mark Buchanan, das im Jahr 2000 erschienen ist und in dem er der Frage nachgeht, ob sich scheinbar zufällige katastrophale Ereignisse wie Erdbeben oder Lawinen nicht doch irgendwie voraussagen lassen, oder, abstrakter: wie stark der Zufall komplexe Systeme tatsächlich bestimmt. Das Wort Big Data kommt in dem Buch noch nicht vor. Es ist ein Modewort der jüngsten Zeit, das große Versprechen der IT-Industrie. Durch die stetig steigende Rechenleistung und Speicherkapazität von Computern, durch die Allverfügbarkeit von Informationen im Internet und immer schlauere Algorithmen, so die These, werden wir in Zukunft in der Lage sein, über unseren beschränkten, kleinen menschlichen Verstand hinauszuwachsen und den Sinn in komplexen Systemen zu erkennen. So etwas Dummes wie der britischen Regierung mit den Kaninchen wird uns nicht mehr passieren.

Warner und Enthusiasten sagen deshalb bereits das „Ende des Zufalls“ voraus. „Wir und unser Leben werden immer berechenbarer. Wirtschaft, Wissenschaft und Politik müssen sich darauf einstellen“, heißt es im Klappentext eines Sachbuches mit diesem Titel, das im Frühjahr erschienen ist. Der Fokus liegt auf gesellschaftlichen Prozessen. Denn bei vielen praktischen Anwendungen von Big Data, die bereits heute existieren, geht es weniger darum, japanische Städte vor dem nächsten Erdbeben zu warnen. Sondern vor allem darum, das Kaufverhalten und Versicherungsrisiken zu berechnen.

Der Hype um Big Data ergänzt andere Entwicklungen, die uns schon bekannter sind und die ebenfalls das Totenglöckchen des Zufalls zu läuten scheinen. Die wichtigste ist die Fortentwicklung der Genanalyse, die uns suggeriert, in naher Zukunft über sämtliche Krankheitsrisiken in unserem Leben schon heute Bescheid wissen zu können. Eben wurde bekannt, dass sich Angelina Jolie beide Brüste hat entfernen lassen, nachdem sie positiv auf ein Brustkrebsgen getestet worden war. Frauen, die die Gene BRCA 1 und BRCA 2 tragen, haben eine 87-prozentige Wahrscheinlichkeit, in ihrem Leben an einer aggressiven Brustkrebsvariante zu erkranken. Dass eine derart hohe Wahrscheinlichkeit den Zusammenhang zwischen Gen und Krankheit bestimmt, ist eine Ausnahme, in der Regel sind die Zusammenhänge deutlich komplexer. Experten warnen deshalb vor deterministischer Hysterie. Doch auch in der Medizin ist der Big-Data-Hype längst ausgebrochen. Mit Hilfe entsprechender Algorithmen ließe sich ja die Analyse der Gene mit einer schier beliebigen Anzahl weiterer Faktoren kombinieren.

Sollten diese Visionen Wahrheit werden, warnen einige, könnte das auch für unsere Vorstellungen von Ethik und Verantwortung erhebliche Auswirkungen haben. Wird einer Frau mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit vorausgesagt, dass sie an Brustkrebs erkranken wird und entscheidet sie sich dennoch gegen das Entfernen des Gewebes, – ist das ein vertretbarer Schritt? Hat sie dann noch das Anrecht darauf, der Solidargemeinschaft die hohen Kosten, die ihre Erkrankung verursacht, in Rechnung zu stellen? Es sind brutale Fragen, die bislang niemand stellt, die sich aber im Schatten der Big-Data-Versprechen mit in die Gesellschaft zu schleichen scheinen.

Das Ergebnis ist eine merkwürdige Gleichzeitigkeit von Verunsicherung und Allmachtsfantasien. Während die Flut der Informationen den einen unüberschaubar erscheint, versprechen Mediziner und Informatiker die buchstäblich weltumfassende (Selbst-)Erkenntnis für jedermann. Doch was als futuristische Utopie verkauft wird, ist in Wahrheit ein erkenntnistheoretischer Rückfall in die Zeit des mechanistisches Weltbildes. Es ist, als würde sich der Weltgeist von Laplace zur Auferstehung bereit machen.

Der französische Mathematiker und Politiker Pierre Simon Laplace, der 1827 starb, nahm an, dass letztlich alle Ereignisse und Zustände auf der Erde nachvollziehbare kausale Ursachen hätten. Der Mensch sei lediglich zu beschränkt, um diese Ursachen zu erkennen und zukünftige Ereignisse mit Sicherheit vorauszusagen. Nur deshalb müsse sich der Mensch mit Wahrscheinlichkeiten, Schätzungen und Vermutungen behelfen. Eine Art allwissender Weltgeist aber kenne jeden Zusammenhang. Verknüpft mit dieser Idee war damals schon eine optimistische Utopie. Wenn der Mensch seine Umwelt nur genügend erforschen würde, aus seinem Irr- und Aberglauben auszubrechen vermöchte, könnte auch er zumindest einen besseren Zustand des Erkennens erreichen. Es ist der Traum der Rationalisten, die dem Menschen vollständige Kontrolle und damit auch vollständige Verantwortung zuschreiben möchten.

Schon die Naturwissenschaften aber zeigen, dass die Frage, ob es Zufälle gibt oder nicht, oft mit ja und nein gleichzeitig beantwortet werden muss. Ob sich der Gegenstand, den der Wissenschaftler beobachtet, nach erkennbaren Gesetzen oder zufällig verhält, ist oft dadurch bestimmt, wie nah der Forscher an sein Objekt heranrobbt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Physik. Schießt ein Fußballspieler einen Ball auf ein Tor, wird der Physiker, der die genauen Ausgangsbedingungen kennt – Größe und Gewicht des Balls zum Beispiel, die Kraft, die den Ball trifft und die Stelle, wo er getroffen wird – eine genaue Vorhersage machen können, wohin der Ball fliegt, von Messfehlern einmal abgesehen. Das Ereignis „Auftreffen des Balles“ ist in diesem Sinne nicht zufällig. Robbt der Physiker allerdings sehr nah an seinen Gegenstand heran, bis auf die subatomare Ebene und betrachtet das Verhalten der einzelnen Bestandteile der Kohlenstoffatome im Fußball, ist es vorbei mit der klassischen Physik und ihren Gesetzmäßigkeiten. Der Ort, an dem ein Teilchen sich messen lässt und die Geschwindigkeit, mit der es bei dieser Messung unterwegs ist, sind keine festen Größen mehr, sondern lassen sich nur noch mit Hilfe von Wahrscheinlichkeiten beschreiben.

Aus naturwissenschaftlicher Sicht gibt es bisher keine guten Gründe, Zufälle und Wahrscheinlichkeiten als Wege der Beschreibung von Welt wieder aufzugeben und zum Determinismus zurückzukehren. Aber selbst wenn sich durch die Verwerfung der Quantenphysik, durch einen Weltalgorithmus oder eine Revolution im Verständnis des Zusammenwirkens von Genen und Umwelt der Tod des Zufalls tatsächlich einstellen würde (alles schon nicht sonderlich wahrscheinlich) – er würde das Zufallsempfinden der einzelnen Menschen vermutlich nicht besonders hart treffen.

Das psychologische Verhältnis der Menschen zum Zufall ist ohnehin ambivalent. Es ist durch eine Verleugnung des Zufalls (und somit einen leichten Hang zum Determinismus) ebenso geprägt wie durch eine innige Sehnsucht nach dem Unvorhergesehenen.

Einerseits fällt es den Menschen schwer, Ereignisse als sinn- oder bedeutungslos zu bewerten. So, wie wir kaum ein abstraktes Bild betrachten können, ohne darin ein Gesicht, eine Katze oder einen Gegenstand zu erkennen, gibt es ein tiefes Bedürfnis, zufällige Ereignisse in einen Masterplan einzubetten. Schon der Begriff „Zufall“ an sich enthält immer eine Bedeutung. Von einem Zufall sprechen wir dann, wenn das unerwartete Ereignis unsere eigentlichen Pläne durchkreuzt, diese ergänzt oder in eine andere Richtung lenkt: Eigentlich wollte ich mittags in der Pizzeria essen. Doch dann traf ich zufällig X, der mich zum Sushi einlud. Eigentlich wollte ich mit dem Auto zum Bewerbungsgespräch fahren, doch dann war ausgerechnet an diesem Tag eine Zündkerze kaputt und ich kam zu spät. Die zufällige Verteilung von Blütenblättern unter einem Kirschbaum aber nehmen wir nicht als solche wahr, weil sie keine Bedeutung für uns hat. Die Philosophie unterscheidet deshalb zwischen dem Zufall, der ein Bedeutungsmoment enthält, und der „Kontingenz“, der Gesamtheit bedeutungsloser Zufälle. Von der Bedeutung bis zur Sinngebung ist es nur ein kleiner Schritt, daher verwundert es nicht, dass das Schicksal erfunden wurde und ihm der Zufall als Knecht zur Seite gestellt wurde.

Andererseits lieben wir den Zufall und würden ihn nicht missen wollen. In Wahrheit nämlich ist das Leben der meisten Menschen erstaunlich arm an Neuem und Unvorhergesehenem. Der Alltag ist ein Korsett schier endloser Wiederholungen. Die dünne Joggerin am Landwehrkanal, die nie grüßt, wird voraussichtlich auch nächste und übernächste Woche morgens um acht dort ihre Runden drehen. Der Kollege trinkt seinen Kaffee immer schwarz. Am ersten Mittwoch im Monat ruft immer die Oma an und am Sonntag um 20.15Uhr läuft der Tatort. Der Geist droht bald zu ertrinken in diesem ewig gleichförmigen Strom von Zeit, in den nur der Kalender künstliche Markierungen stanzt. Je länger er ununterbrochen dahinfließt, desto größer das beinahe destruktive Bedürfnis nach etwas Unvorhergesehenem: nach dem Zufall.

Unterbrechungen der Routine sind so erwünscht wie gefürchtet. Unerwartetes kostet Energie. Der Zufall wird als brutaler wahrgenommen als die Vorsehung. Unvorhergesehene Ereignisse, gerade negative, werden als Willkür empfunden – egal ob es sich um schlechtes Wetter, plötzlich fallende Börsenkurse, eine Krankheit oder einen Todesfall handelt.

Dieses Zuschreiben von Bedeutungen im positiven wie im negativen Sinne erfüllt wichtige psychologische Funktionen. Das Empfinden in den Kategorien gerecht/ungerecht macht vor der Natur keinen Halt. Auch ein Tsunami wird als „Unrecht“ empfunden, selbst wenn es keinen Schuldigen gibt. Handelt es sich um ein Ereignis ohne Verursacher, laufen Verzweiflung und Wut ins Leere. Die Interpretation des Zufalls als Vorsehung oder Schicksal hingegen hat etwas Tröstendes und bildet daher ein wichtiges Element vieler Religionen. Im Zweifel kann die Zuschreibung von Sinn aber auch von Schuld und Verantwortung entlasten: Ein Mann, verheiratet, zwei Kinder, verliebt sich in eine andere Frau. Er beginnt eine Affäre und fühlt sich zerrissen zwischen der neuen Liebe und seiner Familie. In seiner Verzweiflung wendet er sich schließlich an eine Astrologin. Sie sagt ihm, das Treffen sei kein Zufall gewesen, die Affäre sei Schicksal, er ist für die neue Frau „bestimmt“. Damit kann er es endlich vor sich selbst verantworten, sich von seiner Ehefrau zu trennen.

Sowohl unser psychologischer Hang zur Sinngebung als auch unsere Liebe zum Zufall sind tief im Menschsein verankert. Selbst wenn wir bald zu maschinenunterstützten allwissenden Weltgeistern mutieren (wie uns so eifrig versichert wird), würde sich an unserer ambivalenten Wahrnehmung der Regelhaftigkeit der Welt nicht viel ändern. Dass Versicherungskonzerne und Krankenkassen versuchen, die neue Mode Determinismus für fragwürdige statistische Vorhersagen über Einzelpersonen auszunutzen, ist wahrscheinlich. Dass wird den Determinismus so verinnerlichen, dass wir aufhören werden, den Zufall auch zu lieben, ist hingegen nicht zu erwarten. Sicher sagen lässt sich das natürlich nicht.

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