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Bildung: Was keine Schule schafft

Es liegt an den Eltern, ob Kinder bildungsfern sind oder nicht. Sie dürfen nicht aus der Verantwortung entlassen werden.

Meine Großmutter sagte immer „mir“. Sie stammte aus der Gegend um Küstrin, wo das plattdeutsche „mi“ zwischen „mir“ und „mich“ nicht unterscheidet. Später in Berlin wurde aus „mi“ eben „mir“. Sie hatte eine einklassige Zwergschule besucht, kam als junges Mädchen in die Hauptstadt und arbeitete bis zu ihrer Heirat als ungelernte Büglerin in der Damenkonfektion. „Bildungsferner“ geht es eigentlich nicht.

Allerdings – trotzdem oder gerade deshalb – waren sich meine Großeltern darin einig, Bildung für etwas Erstrebenswertes zu halten, das sie ihren fünf Töchtern, soweit möglich, vermitteln wollten. Das Schulgeld für Realschule oder Gymnasium konnte mein Großvater, ein Braumeister aus Breslau, nicht aufbringen. Aber er ging mit seinen Kindern am Sonntag vormittag auf die Museumsinsel oder ins Märkische Museum. Und: „Ja, lies, mein Kind, Lesen bildet“, wurden die Töchter ermutigt. Bücher gab es wenige im Haushalt, doch Tauschen und Verborgen sorgten für Lesestoff.

Nach acht Jahren Volksschule in Friedrichshain traten alle Mädchen eine Lehre an und schlossen sie ab. Dass sie aus Berlin kamen, hörte man ihnen an, aber „mir“ und „mich“ auseinanderzuhalten, hatten sie gelernt. Durch die Teilung Deutschlands wurde unsere Familie auseinandergerissen und viele Briefe gingen zwischen Ost und West hin und her, in Rechtschreibung und Ausdruck einwandfrei. Siehe oben, Lesen bildet.

Nach der Scheidung ihrer ältesten Tochter zogen meine Großmutter und zwei ihrer Töchter den Enkel beziehungsweise Neffen groß. Die Atmosphäre in diesem Haushalt muss immerhin so anregend gewesen sein, dass ein Lehrer einen Hausbesuch machte und vorschlug, den Jungen aufs Gymnasium zu schicken. „Bei uns kann ihm doch keiner helfen!“ wandte meine Großmutter ein. „Macht gar nichts, dann passt er wenigstens auf!“ war die Antwort, und mein Vetter hat das Gymnasium problemlos durchlaufen. Auch für mich intervenierte die Schule, damit ich das Abitur machen konnte. Da ein Studium außer Reichweite schien, hatte eigentlich festgestanden, dass ich nach der 10. Klasse abgehen würde.

Vor diesem Hintergrund kann ich die Nachsicht in Politik und Medien mit den sogenannten bildungsfernen Schichten nicht nachvollziehen. Unser Land ermöglicht kostenlosen Zugang zu Bibliotheken, weiterführenden Schulen, Hochschulen und macht vielfältige Angebote an den Volkshochschulen. In den Museen gibt es Gratistage, an den Theatern deutlich verbilligte Karten. Auch durch bewusste Wahl der Medien, elektronisch oder gedruckt, kann jeder sich (Allgemein-)Wissen, Lebensart, kurz: Bildung aneignen und sie weitergeben, der das für wichtig hält. Bei kleinen Kindern dafür das Fundament zu legen, mit ihnen zu reden, Fragen zu beantworten, für genügend Schlaf zu sorgen, strengt an. Und auch die Gebildeten und/oder Besserverdienenden sind gelegentlich abgespannt, müssen sich zusammennehmen, um Geduld zu bewahren. Es geht um Engagement, nicht um Finanzkraft.

Andererseits: Ohne dieses Fundament, fürchte ich, versprechen die Anstrengungen von Kindergarten und Schule wenig Erfolg. Kinder, die ihre allerersten Jahre vor beliebigen Fernsehprogrammen verbracht haben, deren Fragen den Erwachsenen nur lästig waren, können schwerlich Interesse und Lerneifer entwickeln, wenn es plötzlich von ihnen erwartet wird.

Diesen Zusammenhang sollten Politik und Medien deutlicher machen und „bildungsferne Schichten“ nicht, wie es zur Zeit geschieht, praktisch aus der Verantwortung entlassen. Kindergärten und (Ganztags-)Schulen zu verbessern oder, wo sie fehlen, zu schaffen ist eindeutig Aufgabe des Staates. Aber ein Kind interessiert und aufnahmefähig zu machen, diese Voraussetzung muss zu Hause geschaffen werden. Lehrer lassen sich nun mal nicht wegzappen. Wer zuhören gelernt hat, ist besser dran, und das ist keine Geldfrage.

Die Autorin ist Publizistin und war bis 2006 Abgeordnete der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus.

Jutta Hertlein

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