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Breivik-Prozess: Norwegen verteidigt seine Werte vorbildlich

Zum Auftakt des Prozesses gegen den Massenmörder Anders Breivik beweist die norwegische Öffentlichkeit einmal mehr, wie bewundernswert reif die Gesellschaft dort ist.

Von Caroline Fetscher

Am Auftakt eines Prozesses, wie es ihn im Europa der Friedensdekaden noch nicht gab, steht die Frage nach Tat und Täter. Ein Einzelner beging einen politisch motivierten Massenmord. Er war zum Zeitpunkt der Tat 32 Jahre alt, seine Opfer in der Mehrzahl junge, norwegische Sozialdemokraten, manche von ihnen die Kinder immigrierter Eltern. Es waren angekündigte Morde, der Täter brüstet sich jetzt mit ihnen, er versteht sie als Werbung für sein mehr als 1000 Seiten starkes Pamphlet gegen Einwanderer, Ausländer, Feministinnen, Sozialdemokraten, linke Theoretiker, Kommunisten – traditionelle Zielscheiben von Rassisten, Sexisten oder auch Ultrakonservativen.

Am Auftakt dieses Prozesses sollte auch die Frage nach der Gesellschaft stehen, die auf die Taten des Manifest-Verfassers antwortet. Es ist eine erstaunliche Gesellschaft, eine wegweisende. Norwegens Öffentlichkeit hat Berichte über den Kriminellen, der ab heute für voraussichtlich zwei, drei Monate vor Gericht steht, bereits jetzt satt. Unlängst lockte eine große Zeitung ihre Leser mit einer Ausgabe ohne einen einzigen Bericht zum Fall Breivik. Dass sich Bürger angeekelt abwenden, ist ein weiteres Zeichen dafür, wie bewundernswert reif die Gesellschaft dort ist. Schon die Worte des norwegischen Premierministers zeigten das, als er unmittelbar nach der Tat noch mehr Offenheit beschwor.

Für welche andere, auch westliche Gesellschaft, könnte man die Hand dafür ins Feuer legen, dass sie ähnlich reagieren würde? Weite Teile Skandinaviens haben den wohl zivilisiertesten Zustand erreicht, den der Planet Erde bisher gesehen hat. Während dieser Tage bei uns gern vom „Ende der Utopien“, von Titanic-Stimmung und Apokalypse-Fantasien die Rede ist, sollte man ruhig auf die Länder schauen, in denen eine erhebliche Portion Utopie bereits in selbstverständliche Wirklichkeit übersetzt worden ist. Wovon man vor 200 Jahren anfing zu träumen, das prägt in Skandinavien sämtliche Sphären des Alltags wie der Institutionen. Gleichberechtigung der Geschlechter, Gewaltfreiheit in der Erziehung, eine auf Chancengerechtigkeit angelegte Bildungslandschaft, gute Sozialsysteme: All das ist so erfolgreich, dass es etwa Neoliberalen Angst machen kann.

Solche Zustände provozieren allerdings jene, denen sozialer Fortschritt vorkommt wie ein Lösemittel, das herkömmliche Normen, Hierarchien und Sinnsysteme zersetzt. Auf solche Weise bedroht sehen sich reaktionäre Gruppierungen ebenso wie verstörte, haltlose Individuen – und beide weisen erhebliche Schnittmengen auf. Aus einer solchen Schnittmenge ist offenbar der Terrorist von Oslo hervorgegangen, der aus einer zerrütteten Familie kommt und erklärte, als Heranwachsender habe er „zu viel Freiheit“ gehabt.

Frauen, findet Anders Breivik, sollten sich zurück an den Herd begeben, Männer müssten wieder echte Männer sein, Kinder wieder geschlagen werden dürfen, und generell gebe es ein Zuviel an Freiheit in seinem Land. Aus Protest gegen Demokratie, Sozialstaat und Freiheit ermordete dieser Terrorist, wie ein nordischer Taliban, 77 Menschen. Grauenhaft auf die Probe gestellt durch den Attentäter aber hat eine demokratische, freie und soziale Gesellschaft Skandinaviens der Welt bewiesen, dass sie jedes einzelne dieser Attribute in ihrem Innersten verkörpert. Das skandinavische Modell wurde durch den Mann, der es angriff, überzeugender als je zuvor.

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