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Bürgerproteste: Menschen auf der Suche nach Heimat

Die Gesellschaft mag durch Bürgerproteste in diese oder jene Richtung verändert werden. Der Bürger selbst aber profitiert individuell am meisten.

Bürgerproteste sind ein bisschen merkwürdig: Ausgerechnet diejenigen gehen auf die Straße, die eigentlich genauso effizient und erfolgreich im politischen System handeln könnten. In Stuttgart, in Hamburg, in Berlin – es sind aufgeklärte Menschen, die sich gebildet ausdrücken, so etwas wie ein Mediationsverfahren durchstehen oder sich mit der Flugsicherung auf Augenhöhe anlegen können.

Was das für die Allgemeinheit bedeutet, wird zurzeit ebenso heftig wie hilflos diskutiert. Doch für den Bürger bedeutet es auch etwas. Warum tun sich dieselben Leute auf der Straße zusammen, lassen sich zu Stadtteilbeauftragten machen und hängen Plakate an ihre Hauswände, die andererseits keinesfalls mehr bereit sind, sich dauerhaft politisch zu engagieren? Ist es nur der Politikverdruss? Oder haben die bürgerlichen Protest-Happenings einen zusätzlichen Charakter, der im Verborgenen bleibt? Warum sind es bei den neuen Bewegungen ausgerechnet die vor ein paar Jahren Zugezogenen, die den Ton angeben?

Das hat Gründe. Bürgerproteste sind entgegen der landläufigen Meinung nicht nur gegen etwas, sie sind auch für etwas gut. Wo, wenn nicht im gemeinsamen Aufschrei gegen die kalte Infrastrukturplanung, treffen sich heute noch die unterschiedlichen Milieus der Gesellschaft? Wo, wenn nicht bei abendlichen Strategierunden in den Wohnzimmern von Lichterfelde und Kleinmachnow, Babelsberg und Wannsee, kann man sich unverbindlich mal in der Nachbarschaft bekannt machen und in der Aktion der Gleichgesinnten den einen oder anderen neuen Freund finden? Seitdem die Kirchen dafür mangels Masse nicht mehr so richtig zur Verfügung stehen, die Schulelternversammlungen in der ermatteten Reflexion verschiedener pädagogischer Konzepte versanden, sind die Bürger auf etwas angewiesen? Genau, auf die Straße.

Und wenn die Gesellschaft beim Fluglärm nicht passt, dann findet man sie vielleicht im Uferstreit, beim Protest gegen den Umzug pädagogischer Einrichtungen oder der Demo für ein Wahlpflichtfach Religion. Das Schöne am Protest ist für den Bürger, dass er jederzeit woanders wieder anfangen kann. Und wenn der Bürger gar nicht mehr bewegt sein will, dann bleibt er einfach zu Hause.

Die Gesellschaft mag durch Bürgerproteste in diese oder jene Richtung verändert werden. Der Bürger selbst aber profitiert individuell am meisten. Er findet im Protest eben das, was das moderne Leben in der Stadt ihm sonst nicht mehr zu bieten hat: Heimat.

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