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Bund vs. Länder: Unsere zentralistische Republik

Deutschland würde besser funktionieren, wenn die Bundesländer wieder mehr Macht hätten. Ein Kommentar.

Unserem Bundesstaat ist das Gleichgewicht abhandengekommen. Er hat eine unitarische Schlagseite, eine zu große Neigung zum Zentralen und Einheitlichen hin. Nicht erst in letzter Zeit, seit 30, 40 Jahren schon, mit einer Tendenz zur Verfestigung. Das ist eine fatale Entwicklung, denn die Stärke des Bundesstaats ist seine Flexibilität im Verteilen von Gestaltungsmacht zwischen zwei staatlichen Ebenen. Einer Zentralregierung und den Teilstaaten, die beide autonomen Spielraum brauchen für die Aufgaben, die sich ihnen jeweils stellen. „Das Problem besteht darin, wie die Kräfte im Gleichgewicht gehalten werden können, so dass weder die Einzelstaaten als Planeten in den Weltraum abdriften, noch die Sonne der Zentralregierung sie in ihrem verzehrenden Feuer verschlingt.“ So hat der englische Historiker und Diplomat James Bryce einmal die Daueraufgabe in einem Bundesstaat beschrieben. Unser Problem zu Beginn des 21. Jahrhunderts besteht nicht im Abdriften der Länder. Es ist die zu große Hitze, die das Zentralgestirn entwickelt.

Die ungute Entwicklung begann mit den unitarischen Föderalismusreformen der Großen Koalition nach 1966, zu einer Zeit, als man noch an die Wirksamkeit zentralen staatlichen Planens und Lenkens, an die „Globalsteuerung“, an die Beherrschbarkeit der Konjunktur glaubte. Die Machbarkeitseuphorie jener Jahre, die den Föderalismus kopflastig werden ließ – denn der Bund sah sich in der Rolle des Steuermanns auf allen denkbaren Gebieten – ist heute aber einer deutlichen Ernüchterung gewichen.

Doch der Umschwung bleibt aus. Die Länder sind damals unter die Räder gekommen und da liegen sie nun. Dabei sind sie es, die Deutschland ausmachen. Nur über ihr bundesstaatliches Zusammenfügen hat es in allen Epochen Einigkeit und Einheit gegeben. Die Länder waren und sind konstitutiver Teil dieses politischen Systems. Wer sie verkümmern lässt, der schadet letztlich dem Ganzen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben einen Föderalismus gewollt, der im Gleichgewicht ist. Sie hatten den missglückten Weimarer Bundesstaat vor Augen, mit seinem extremen Zentralismus und seiner Hintantstellung der Länder. Die Möglichkeiten der Machtverteilung wurden nicht genutzt: Der überforderten Reichsebene standen die unterbeschäftigten Länder gegenüber.

Nun besteht für Alarmthesen noch kein Anlass. Aber man muss nur die Tageszeitung lesen, um zu erkennen, dass es wie zu Weimarer Zeiten ein Unbehagen am Föderalismus gibt. Es resultiert daraus, dass er nicht so recht funktioniert. Und er funktioniert nicht so recht, weil er aus dem Gleichgewicht ist. Wie damals. Zwar hat man mit der Föderalismusreform von 2005 versucht, den unitarischen Trend – immer mehr Bund, immer weniger Länder – umzukehren. Doch wenn der Eindruck nicht täuscht, schwingt das Pendel schon wieder in die andere, die falsche Richtung.

Denn das Ziel muss sein, die Landesebene wieder zu stärken. Dafür spricht schon ein schlichtes demokratisches Argument. Die Länder schaffen politische Heimat und Identität, weniger im Sinne landsmannschaftlicher Tümelei, sondern durch die Möglichkeit demokratischer Selbstbestimmung und Teilhabe in der Region, in der man lebt. Warum sie also nicht autonomer gestalten können? Die Länder bedeuten ein Mehr an Demokratie und damit auch an politischer Stabilität. Nur müssen die Landtage dafür mehr zu entscheiden haben. Denn dass in den Ländern das Mittel der direkten Demokratie verstärkt eingesetzt wird, ist kein Ausgleich für das Verkümmern ihrer parlamentarischen Demokratie.

Die Bedeutungslosigkeit der Landtage ist ein verfassungspolitisches Problem. Sie als Legislative zu bezeichnen, ist fast schon übertrieben: Die Landesparlamente stehen im Schatten der Landesregierungen, deren Spitzen sich für den Machtverlust im Land durch eifriges Mitregieren im Bund schadlos halten. Und wo sie noch etwas zu sagen haben, drängelt sich der Bund hinein – wie in der Bildungspolitik – oder schaffen die Landesregierungen durch Absprachen unter sich Tatsachen an den Parlamenten vorbei. Die Hauptaufgabe der Landtage ist heute das Kontrollieren und Reformieren der Verwaltung. Verwaltungspolitik ist zweifellos wichtig. Denn die Länder sind der Staat, sie sind verantwortlich, dass die Justiz funktioniert, dass Straßen gebaut und Brücken repariert werden, sie leisten den Großteil der staatlichen Investitionen, sie bezahlen die Beamten und schauen darauf, dass es genügend Lehrer und Polizisten gibt. Aber ist Verwaltungspolitik allein ein Grund, sich in ein Parlament wählen zu lassen? Gesetzgebung ist Bundessache, Verwaltung machen die Länder – auf diese Formel wird der deutsche Föderalismus gern gebracht. Aber so funktioniert ein Bundesstaat nicht.

Es geht nicht ohne Gesetzgebung in den Ländern. Sonst können sie nicht leisten, wofür sie prädestiniert sind: regionale Strukturpolitik. Die ist in Zeiten der Globalisierung womöglich noch wichtiger geworden als zuvor – global denken, regional handeln. Regionale Strukturpolitik: Das ist die eigenständige Bündelung von Wirtschafts- und Infrastrukturförderung, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Umwelt- und Energiepolitik, Bildungs- und Wissenschaftspolitik nach den spezifischen Voraussetzungen, Bedürfnissen, Stärken und Schwächen einer Region. Sie ist auch deshalb wieder mehr gefragt, weil die Differenzierung zwischen den Ländern in den vergangenen Jahren größer geworden ist (trotz des Koordinierungsanspruchs des Bundes im Zeichen der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“, ein Anspruch, der etwas Sisyphoshaftes hat).

Die strukturellen Unterschiede zwischen den Regionen sind da und sie verlangen nach regionalen Lösungen. Da sind die dynamischen Industriestaaten wie Baden-Württemberg und Bayern, die sich im globalisierten Wettbewerb behaupten müssen. Es gibt die Umstrukturierungsländer wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder das Saarland, die sich neu erfinden müssen. Und während die Aufstiegsländer Sachsen und Thüringen relativ zügig Anschluss finden, hat Sachsen-Anhalt damit Schwierigkeiten. Mecklenburg- Vorpommern muss als Agrar- und Tourismusland seinen Platz finden. Und der Stadtstaat Berlin ist ohnehin eine Welt für sich.

Der Bund kann die divergierenden Regionalinteressen und -bedürfnisse kaum adäquat bedienen. Er mag punktuell helfen, aber wie die Regionen durch die Zeiten kommen, ist zunehmend ihre Sache. Und dazu brauchen sie mehr autonome Gestaltungsmöglichkeiten. Durch mehr Eigenständigkeit in der Gesetzgebung, durch das Recht, von Bundesgesetzen abweichen zu können, durch Öffnungsklauseln. Was man in der Föderalismusreform vor fünf Jahren ansatzweise eingeführt hat, sollte weiter ausgebaut werden.

Um gute Regionalpolitik machen zu können, brauchen die Länder zudem Finanzautonomie. Die ist fast völlig verschwunden. Die Länder haben praktisch keine Steuerhoheit, das Budgetrecht der Landtage ist in einer Weise eingegrenzt, dass sich unsere Vorfahren des 19. Jahrhunderts, die es gegen den fürstlichen Obrigkeitsstaat durchgesetzt haben, staunend die Augen reiben würden. In keinem Bundesstaat der Welt, hat der Staatsrechtler Hans- Peter Schneider herausgefunden, ist die Autonomie der Teilstaaten bei Steuern und Finanzen so gering wie in Deutschland. Freilich heißt es schnell, es drohe ein ruinöser Steuerwettbewerb der Länder. Übersehen wird dabei, dass die Kommunen bei der Gewerbesteuer seit Jahrzehnten einen solchen Wettbewerb veranstalten, ohne dass die Untergangsszenarien Wirklichkeit geworden wären.

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Mehr Länderautonomie also. Das ist auch deshalb wichtig, weil eine weitere politische Verkümmerung der Landesebene sich irgendwann auf das politische Personal auswirken wird. Denn welchen Politikertyp schafft diese Schrumpfform von Föderalismus auf Dauer in den Ländern? Einen eigenständigen oder einen nachgeordneten? Karrieristen mit Berlinblick oder Landesväter und Landesmütter? Bessere Oberregierungsdirektoren, wie sie heute schon in einigen Ländern am Ruder sind? Die Häufung der Abgänge in letzter Zeit wirkt wie ein Fanal: Roland Koch und Ole von Beust geben vorzeitig auf, Christian Wulff flüchtet in den Vorruhestand im Präsidialamt, Günther Oettinger lässt sich nach Brüssel abschieben. Dabei war die Landesebene immer (und das ist eine Stärke des Föderalismus) ein Personalreservoir für den Bund. Hier können unabhängige Köpfe wachsen. Konrad Adenauer, Kurt- Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder – sie alle hatten landespolitische Erfahrung. Angela Merkel ist, sieht man von der Kurzzeitbesetzung Ludwig Erhard ab, der erste Regierungschef im Bund, der die Landesebene nicht kennt.

Dabei hat der Bund durch den Bedeutungsverlust der Länder wenig gewonnen. Ganz im Gegenteil. Je mehr er an sich zog, umso zäher verlief der politische Prozess. Was nicht überrascht. Denn der föderalistische Clou des Grundgesetzes lautet: Je weniger die Länder eigenständig machen können, weil der Bund es machen will, desto stärker wird der Einfluss des Bundesrats. Es hat lange einigermaßen geklappt. Ob das unter den Bedingungen eines Fünfparteiensystems auch noch gilt, wird man sehen müssen. Aber eines ist sicher: Wer weniger Bundesratseinfluss möchte, der kommt nicht umhin, den Ländern Macht und Zuständigkeiten zurückzugeben.

Der Bund ist auch deshalb gut beraten, eine solche Rückverlagerung zu beginnen, weil er damit jener Überlastungsfalle entgeht, die schon in Weimar zuschnappte. Und an schweren Aufgaben fehlt es ihm nicht: reformbedürftige soziale Sicherungssysteme, horrende Schulden, der Umbau der Armee, wachsendes Engagement in Europa und der Welt. Aber zum Verzicht sind die Chefetagen der Parteien noch nicht bereit. Sie klammern sich an einen Allzuständigkeitsanspruch des Bundes. Ein Symptom davon ist das mittlerweile fast reflexhafte Reklamieren von Bundeszuständigkeit oder Bundeskontrolle selbst bei kleineren Anlässen

Der überforderte Bund, eine Übertreibung? Vielleicht. Aber wer sich den Verlauf der Hartz-IV- Reform anschaut, kommt möglicherweise zu einem anderen Schluss. Es war eines der großen Zentralisierungsprojekte in der Geschichte der Bundesrepublik. Und was ist das Ergebnis? Die Reform wurde für den Bund (und damit die Steuerzahler) erheblich teurer als geplant. Das jahrelange Organisationsgeplänkel, ausgetragen auch in Karlsruhe, weckte Zweifel an der Effizienz. Die politischen Kosten waren für die SPD, die Urheberin, enorm. Das Warnsignal wird aber von der Union nicht wahrgenommen: Denn sonst würde Ursula von der Leyen ihre potenziell kostenträchtige Bildungschip-Idee (abgeschaut von der Kommunalebene, wo sie offenbar funktioniert) nicht auch noch mit einer Aufgabenerweiterung der Jobcenter verbinden. Hier fängt der Weg zum Bundessozialamt an und damit eine weitere Entmachtung von Ländern und Kommunen.

Eigentlich könnte man die Reform auch rückabwickeln und Länder und Kommunen es wieder selber machen lassen. Dann könnte man in zum Beispiel Hessen nochmals probieren, ob sich das Wisconsin-Modell nach Deutschland übertragen lässt, und Kurt Beck in der Pfalz könnte ein eigenes Modell entwickeln, und irgendwann schaut man dann, wer es besser hinbekommen hat. Dieses föderale Prinzip des Lernens aus dem Vergleich steckte auch hinter dem internationalen Pisa-Test der Schulen. Bei uns war das, weil man Länder hat, auch national möglich. Die Debatte lief aber am Ende darauf hinaus, wegen der unterschiedlichen Ergebnisse mehr zentrale Steuerung und Lenkung zu verlangen.

In zwei oder drei Jahren wird es wieder eine Föderalismuskommission geben, denn 2019 läuft der Solidarpakt aus und damit das gesamte Finanzausgleichssystem. Eine gute Gelegenheit, wieder einen ausgewogenen Bundesstaat zu bekommen. Doch zuvor müssen wir uns entscheiden, welchen Föderalismus wir haben wollen: weiterhin den eher technokratischen, intransparent verflochtenen, bundeslastigen Föderalismus der Regierungen und Bürokratien, oder einen demokratischeren Föderalismus mit mehr Autonomie und Gestaltungsfähigkeit auf beiden Ebenen, mit Planeten und Sonne im Gleichgewicht. Das aber heißt vor allem: Macht die Länder wieder stärker.

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