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Deutschland will die neue Supermacht besser verstehen.

© picture alliance / dpa

China und sein Aufstieg: In der Mitte nicht reich

Bald wird China die größte Volkswirtschaft der Welt sein – doch die Machthaber könnten Mühe haben, das Volk in Zukunft zufriedenzustellen. Ein Essay.

Ein Essay von Fabian Leber

Lord Macartney kam mit Teleskopen, Barometern, kunstvollen Uhren und Luftgewehren. Im Schlepptau hatte er mehrere Hundert Wissenschaftler, Diplomaten und Künstler. König George III. von England hatte ihn im September 1792 losgeschickt. Doch es dauerte ein Jahr, bis der Lord endlich zu Kaiser Qianlong im Sommerpalast bei Peking vorgelassen wurde. Was folgte war eine Aneinanderreihung von Missverständnissen. Trotz wochenlangen Zuredens seitens der Chinesen weigerte sich Macartney, den üblichen Kotau zu machen. Der Kaiser nahm die Geschenke an, aus „Höflichkeit“, wie es hieß. Doch er ließ Macartney unverrichteter Dinge ziehen und schrieb an George III: „Sie zeigen zwar erkennbar Demut und Gefolgsamkeit, aber wir haben nicht den geringsten Bedarf an den Produkten ihre Landes."

George hatte für das Mutterland der industriellen Revolution einen neuen, riesigen Markt erschließen wollen. Zu jener Zeit nämlich durften westliche Händler in China nur bis zum Hafen von Kanton im Süden vordringen. Dort wurden ihre Waren über chinesische Zwischenhändler weitervertrieben – ein wenig einträgliches Geschäft für die Engländer, die umgekehrt einen enormen Durst nach Tee aus China entwickelten.

China ist eine Supermacht, wie es sie zuvor nie gab

Doch China wollte England nicht auf Augenhöhe begegnen. Man war das „Reich der Mitte“ – der einzige „zivilisierte Staat“ der Welt. Außerhalb gab es nur „Barbaren“, dazu zählten in einem System konzentrischer Kreise zum Beispiel Japan, Korea und weite Teile Südostasiens. Diese waren in weitverzweigte Tributbeziehungen eingebunden, konnten umgekehrt aber auch Handel mit dem Kernland betreiben.
China war damals mit weitem Abstand die größte Volkswirtschaft der Erde, in vielen Bereichen dem Rest der Welt technologisch überlegen. Adam Smith sagte 1776, China sei ein viel reicheres Land „als jeder Teil Europas“. Wohl deshalb fehlte hier der Druck, der anderswo zur industriellen Revolution führte. Dies muss man bedenken, wenn heutzutage in China vom „Wiederaufstieg“ und nicht bloß einem Aufstieg die Rede ist.
Die gescheiterte Macartney-Mission markierte den Beginn einer tiefen Zäsur für China. Im 19. Jahrhundert folgten die Opium-Kriege, die „ungleichen Verträge“ mit Ländern wie Großbritannien oder Deutschland, dann der Bürgerkrieg und die Ausrufung der Volksrepublik durch Mao 1949. Dessen „großer Sprung nach vorne“ endete zwar genauso im Desaster wie die Kulturrevolution. Doch umso mehr setzte China nach Maos Tod zu einer atemberaubenden Aufholjagd an.
Mag für den Westen im Moment eher die Zerrüttung der arabischen Welt oder der schwelende Konflikt mit Russland im Mittelpunkt stehen – mit seinen wirtschaftlichen Verflechtungen ist auch China keine einfach zu berechnende Größe mehr. Schon in fünf bis sechs Jahren wird die Volksrepublik die USA als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen. Sie ist eine Supermacht, wie es sie zuvor noch nie gab: Ein ökonomischer Gigant, dessen Pro-Kopf-Einkommen aber wohl noch lange auf dem Niveau eines Schwellenlandes bleiben wird.

China ist zu einer Risikogesellschaft geworden

Wie ein Anachronismus muss es wirken, dass der Riesenstaat auch 25 Jahre nach dem Mauerfall noch von einer Partei geführt wird, die den Begriff „kommunistisch“ in ihrem Namen trägt. Noch bis vor etwa zehn bis 15 Jahren glaubte man im Westen, die Entwicklung hin zu einer liberalen Demokratie sei bloß eine Frage der Zeit. Das Recht auf Besitz, der ökonomische Wettbewerb, zuletzt auch die digitale Vernetzung – das alles werde den Wunsch nach politischer Mitbestimmung hervorbringen. So weit die Theorie.
Tatsächlich ist in China eine Mittelschicht entstanden, die etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmacht. Doch sie scheint weniger mit der Bekämpfung der Einparteienherrschaft als mit sich selbst beschäftigt zu sein – damit, all das an Besitz und Status zusammenzuhalten, was sie erreicht hat. Denn der Wechsel von sozialistischer Kollektivierung hin zu kapitalistischem Wettbewerb hat aus China eine Risikogesellschaft gemacht. Anders als zu Maos Zeiten hat der Staat sich aus dem Privatleben seiner Untertanen weitgehend zurückgezogen. Im Gegenzug erwartet er politische Loyalität und soziale Selbstorganisation.
So sehr sich China nach außen hin als verlässlicher Partner zu präsentieren versucht – zuletzt bei dem mit viel Pomp inszenierten Apec-Gipfel in Peking –, so sehr scheint die Partei diese Risiken im Inneren auch weiterhin zu fürchten. Auf subtile Art brachten das die von Ai Wei Wei aus Glas nachgebildeten Fensterkurbeln von Pekinger Taxis zum Ausdruck, die im Sommer in dessen Berliner Ausstellung zu sehen waren. Die Originalkurbeln mussten während der Tagung des Nationalen Volkskongresses 2012 abmontiert werden, so sehr hatte die Kommunistische Partei (KPCh) Angst davor, dass Regimegegner Flugblätter aus fahrenden Taxis abwerfen könnten.
Bei diesem Volkskongress wurde der Machtwechsel zwischen Hu Jintao und seinem Nachfolger Xi Jinping vollzogen. Während die zehnjährige Amtszeit des Technokraten Hu inzwischen als eine der „verlorenen Jahre“ gilt, versucht der jetzige Staats- und Parteichef sich als zupackender Charismatiker zu inszenieren. Er trägt den Regenschirm gerne selbst, sobald Fotografen dabei sind, herzt Babys und präsentiert sich hemdsärmelig. Seine Frau ist eine bekannte Folksängerin. Doch hinter der lächelnden Fassade wurde der Kurs verschärft, gerade was die Verfolgung von Dissidenten und die ausgefeilte Internet-Zensur anbelangt.

Peking steckte 650 Milliarden Dollar in ein Konjunktur-Programm

Denn die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft hat inzwischen einen kritischen Punkt erreicht. Schon 2007 hatte der damalige Ministerpräsident Wen Jiabao erstaunlich offen angemerkt, dass die Entwicklung des Landes Folgendes gerade nicht sei: stabil, nachhaltig, planvoll und ausgeglichen. Was allerdings nichts daran änderte, dass die Finanzkrise des Westens ein Jahr später den Pekinger Machthabern durchaus in die Hände spielte. Angesichts der massiven Rettungspakete, die demokratische Regierungen in den USA und Europa schnürten, um die Privatwirtschaft am Laufen zu halten, wurde plötzlich in einem viel freundlicheren Ton über das angebliche „China-Modell“ diskutiert: Können gerade Regierungen, die sich nicht alle paar Jahre den Wählern stellen müssen, eine weitsichtigere Wirtschaftspolitik machen? Sind autoritäre Regime womöglich generell besser geeignet, um Entwicklungsländer nach vorne zu bringen? Der Vorstand eines Dax-Unternehmens, das in China sehr aktiv ist, sagt, man müsse sich zur Beantwortung dieser Frage nur einmal Indien anschauen, die größte Demokratie der Welt. Im Vergleich gehe es in China sehr viel verlässlicher und effizienter zu.

Auch die Proteste in Hongkong haben der Regierung nicht geschadet

Tatsächlich agierte die chinesische Spitze auf dem Höhepunkt der Krise schnell und besonnen. Sie steckte 650 Milliarden Dollar in ein Konjunktur-Programm, half damit indirekt auch Ländern wie den USA und Deutschland. Der Westen wusste das zu schätzen. Kritik an Menschenrechtsverletzungen und fehlender Demokratisierung ist seitdem merklich leiser geworden. Hinzu kommt: Im Vergleich zu dem Weg, den Russland unter Wladimir Putin eingeschlagen hat, wirkt die chinesische Außenpolitik geradezu zurückgenommen – aller historisch aufgeladenen Grenzkonflikte im Südchinesischen Meer zum Trotz.

Auch die jüngsten Proteste in Hongkong haben der Pekinger Führung erstaunlich wenig geschadet. Was auch daran liegen mag, dass die KPCh das Hongkong-Thema vor allem als eine Frage von Einheit oder Zerfall des Landes darzustellen versucht. Der implizite Vorwurf, die Demonstranten dort hätten statt mehr Demokratie eine Abspaltung der ehemaligen britischen Kolonie im Sinn, dürfte tatsächlich bei nicht wenigen Chinesen im „Mainland“ verfangen. Zu tief sitzt dort noch immer das Trauma der territorialen Besitzergreifung durch Kolonialmächte im 19. Jahrhundert. Und zu sehr sind Hongkong und Festland-China als Lebenswelten voneinander getrennt, angesichts einer lange unterschiedlich verlaufenen Geschichte und einer immer noch bestehenden Grenze. Offizielle Vertreter der Volksrepublik jedenfalls heben immer wieder hervor, in Hongkong müsse eine „patriotisch“ gesinnte Führung gewährleistet bleiben, die die von Deng Xiaoping geprägte Doktrin vertrete: „Ein Land, zwei Systeme.“ Gemeint ist damit, dass Hongkong mindestens bis 2047 ein eigenes politisches System behalten darf.

Die altehrwürdige Mandarin-Bürokratie als Vorbild für die KP

In China selbst profitiert die Kommunistische Partei bis heute stark davon, dass sie sich als diejenige Kraft präsentieren kann, die das Land 1949 aus dem „Jahrhundert der Demütigung“ durch fremde Mächte herausgeführt hat. Und auch noch aus einer sehr viel älteren Tradition kann die KPCh schöpfen, jenseits aller Folklore rund um Mao, der nach offizieller Parteimeinung 70 Prozent richtig und 30 Prozent falsch gemacht hat: Dem konfuzianischen Erbe des bereits erwähnten „zivilisierten“ Staates. Nach dieser Interpretation steht die Partei mehr oder weniger in der Nachfolge der altehrwürdigen Mandarin-Bürokratie. Deren Beamte wurden durch rigorose Prüfungen ausgesucht, für die sich immerhin Menschen aus allen sozialen Schichten bewerben durften. Sollte die KP eines Tages tatsächlich einmal von sich aus eine Demokratisierung anstoßen, dann könnte am Ende eine Lösung herauskommen wie im ebenfalls konfuzianisch geprägten Japan. Dort regiert trotz freier Wahlen seit 1955 nahezu ununterbrochen die Liberaldemokratische Partei, die eng mit Staatsapparat und Industrie verbandelt ist.

Das „Mandat des Himmels“ wiederum, auf das sich Chinas Kaiser beriefen, ist etwas anderes als das europäische Gottesgnadentum. Während letzteres bedingungslos galt, hing die Legitimität eines chinesischen Herrschers auch davon ab, wie gut und tugendhaft er regierte und wie sehr er den Rat von Gelehrten berücksichtigte. Den Nachwirkungen des Konfuzianismus soll es angeblich auch zu verdanken sein, dass die Führer von Staat und Partei stets mit tiefschwarz gefärbten Haaren auftreten. Nach Ansicht des Konfuzius-Schülers Mengzi sollten Grauhaarige geschont werden und lieber von der Familie versorgt werden sollen.
Dass an dieser Tugendhaftigkeit aktuell Zweifel bestehen, daraus macht die Führung um Xi Jinping kein Geheimnis. Im Gegenteil: Nicht ganz klar ist, ob er damit vor allem innerparteiliche Widersacher loswerden will oder ob es ihm wirklich um moralische Erneuerung geht. Geschätzt wird, dass die Korruption pro Jahr drei Prozent der Wirtschaftsleistung auffrisst. Evan Osnos, ehemaliger Peking-Korrespondent des „New Yorker“ berichtet in seinem Buch „Age of Ambition“, dass Beamte während des Volkskongresses die Filialen von Gucci und Louis Vuitton leergekauft hätten. Offiziell verdienen sie rund 20 000 Dollar im Jahr. Beim darauffolgenden Kongress bestellten sie telefonisch vor.

Laut einer Umfrage des amerikanischen „Pew“-Instituts halten inzwischen 48 Prozent aller Chinesen die zunehmenden Wohlstandsunterschiede für ein „sehr großes Problem“ in ihrem Land. Zu Beginn der Öffnung hatten Gerechtigkeitsfragen noch keine große Rolle gespielt – fast jedem Chinesen war es Jahr für Jahr besser gegangen. Das Durchschnittseinkommen stieg von 200 Dollar im Jahr 1978 auf heute mehr als 6000 Dollar. Wer einmal in einer südchinesischen Metropole wie Shenzhen unterwegs war, dem fallen vom Lebensstandard her kaum noch Unterschiede zu amerikanischen oder europäischen Vorstädten auf – bloß, dass die Wohnungen der Mittelschicht in die Höhe statt in die Breite gebaut werden.

"Es spielt keine Rolle, ob die Katze schwarz oder weiß ist"

Das rasante Wirtschaftswachstum der vergangenen 30 Jahre hatte aber auch damit zu tun, dass China nach Mao von einem historischen Tiefpunkt aus angesetzt hatte. Bereits seit einigen Jahren werden die hohen Zuwächse zum Teil durch massive staatliche Investitionen erkauft – auf Kosten der privaten Haushalte, deren Ersparnisse wegen künstlich niedrig gehaltener Zinsen des staatlichen Bankensystems wenig abwerfen. Schwieriger wird es nun sein, den Sprung vom Schwellenland zum Industriestaat zu schaffen. Allein bis 2030 wird das Land der Demographie wegen 37 Millionen Arbeitskräfte verlieren. Außerdem lauert die „Middle Income Trap“, eine Falle, in die Schwellenländer hineinlaufen können, weil sie für einfache Arbeiten zu teuer geworden sind, gleichzeitig aber den Wandel hin zu hochwertiger und innovativer Produktion nicht schaffen. Aus der Region um Shenzhen, wo das Wirtschaftswunder seinen Anfang nahm, wandern inzwischen Betriebe nach Kambodscha oder Vietnam ab, nachdem die Partei Lohnerhöhungen für Arbeiter durchsetzte, um diese gewogen zu halten. Wenn es einmal mehr Demokratie geben sollte, dann also vielleicht nicht deshalb, weil die Partei Wohlstand gebracht hat, sondern weil sie es nicht mehr schafft, die gewohnten Zuwächse zu garantieren. Sie würde dann Opfer ihres eigenen Erfolgs Deng Xiaoping, der Vater der Reformen, setzte einmal ein bekanntes Zitat in die Welt: „Es spielt keine Rolle, ob die Katze schwarz oder weiß ist; solange sie Mäuse fängt, ist sie eine gute Katze.“

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