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Meinung: Chirurgisches Roulette

Kannten die siamesischen Zwillinge das wahre Operationsrisiko? / Von Alexander S. Kekulé

WAS WISSEN SCHAFFT

Ladan und Laleh Bijani waren 29 Jahre lang unzertrennlich. Die siamesischen Zwillinge verbrachten Kindheit und Jugend in Iran zusammen, machten gemeinsam das Abitur. Wegen ihrer trotzigen und lebensfrohen Art wurden sie in ihrer Heimat zur Berühmtheit, auch zum Vorbild: Menschen, die sich von einem schlimmen Schicksal nicht unterkriegen lassen. Ihr Jurastudium in Teheran beendeten sie mit sehr guten Abschlüssen. Dass nicht jede für sich in die Prüfungen gehen konnte, dürfte ein Vorteil gewesen sein. Zwei Gehirne merken sich mehr als eins.

Zuletzt aber wurde es ihnen zum Verhängnis, dass in ihrem seitlich zusammengewachsenen Schädel zwei vollständige Gehirne lagen. Zumindest in der Theorie sind zwei Gehirne nicht untrennbar, machten sich die Schwestern immer wieder Mut; eines Tages werde ihnen die Medizin helfen können.

Die Chancen für die Trennung einer am Kopf zusammenhängenden Zwillingsgeburt, eines so genannten Craniopagus, sind in den ersten Lebensjahren am höchsten. Ein noch nicht voll entwickeltes Gehirn kann Operationsschäden kompensieren, unversehrte Teile übernehmen die Aufgaben der abgestorbenen Nervenzellen. Diese „Plastizität" des Gehirns nimmt nach der Kindheit stark ab. Als die BijaniSchwestern vor drei Jahrzehnten zur Welt kamen, war im damaligen Persien an eine Operation nicht zu denken.

Mit dem Erwachsenwerden sehnten sie sich offenbar immer stärker danach, eigene Wege zu gehen. Doch der medizinische Fortschritt, auf den die eineiigen Zwillinge hofften, ließ immer deutlicher die enormen Risiken einer Trennungsoperation erkennen. Röntgenaufnahmen der Blutgefäße ergaben, dass die Gehirne zwar getrennte Zuflüsse, jedoch nur einen gemeinsamen Abfluss besitzen. Daher musste für die Trennung eine zweite, aus dem Oberschenkel entnommene Abflussvene angeschlossen werden. Das Zentralorgan reagiert auf solche Manipulationen äußerst empfindlich; winzige Änderungen des Strömungswiderstandes können zu einer tödlichen Schwellung des Gehirns führen. Zudem liegen in den Hirngefäßen hoch empfindliche Messfühler für die Steuerung des Blutdrucks, deren Störung einen lebensgefährlichen Blutdruckabfall bewirken kann. Deutsche Spezialisten hatten einen Eingriff 1996 wegen der Risiken abgelehnt.

Anders jetzt die Ärzte in Singapur. Doch bei den OP-Vorbereitungen für die iranischen Schwestern zeigten sich weitere, unerwartete Probleme: Der Blutdruck in den Gehirnen war viel höher als bei normalen Menschen, zusätzlich hatten sich im Abflussbereich ungewöhnliche „kollaterale" Blutgefäße gebildet. Im verwachsenen Schädel der Bijanis herrschten also höchst ungewöhnliche Durchblutungsverhältnisse, deren Reaktion währen der Operation nicht vorhersagbar war.

Trotz dieser Risiken entschloss sich der Neurochirurg Keith Go aus Singapur zur Operation. Ihm war bereits einmal die Trennung eines Craniopagus gelungen – allerdings mit einem weniger komplizierten Eingriff kurz nach der Geburt. Laut Presseberichten schätzte die Klinik das OP-Risiko auf rund 50 Prozent. Das war eine sehr optimistische Annahme. Und selbst wenn sie gestimmt hätte, wäre der Eingriff russisches Roulette mit drei Patronen gewesen.

Wie alt wären die muslimischen Schwestern, die außer gelegentlichen Kopfschmerzen keine weiteren Beschwerden hatten, ohne die Operation geworden? Das weiß nur Allah. Die an der Brust zusammengewachsenen Zwillingsbrüder Chang und Eng Bunker, die 1811 in Siam geboren wurden und dem seltenen Geburtsfehler den Namen gaben, brachten es zu wohlhabenden Zirkusartisten. Sie wurden 63 Jahre alt, heirateten beide und zeugten zusammen 21 Kinder.

Der Autor ist Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Universität Halle-Wittenberg. Foto: Jacqueline Peyer

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