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Meinung: Das Ende des Neids

Warum Deutschland in Frankreich nicht mehr als Vorbild gilt Von Pascale Hugues

Vorbei die glorreichen Tage, als der große Reformer Gerhard Schröder auf den Treppen zum Elysée die Muskeln spielen ließ. Verhallt die Komplimente von Jaques Chirac, der beim Besuch in Berlin Ende September „die Intelligenz und den außerordentlichen Mut“ des Kanzlers lobte, der sich energisch ums Abspecken des Sozialstaats bemühte. Vorbei die selige Bewunderung der Franzosen, die gar nicht fassen konnten, mit welch scheinbarer Leichtigkeit der heroische Kanzler seine Reformen vorantrieb. Schröder gilt in Frankreich nicht mehr als großer Reformator.

Damals wagte man sich kaum den kollektiven Aufruhr vorzustellen, den so ein Projekt in Frankreich verursacht hätte! In Berlin gab es keine machtvollen Demonstrationen. Keine Schule, kein Krankenhaus, kein Flughafen war von Streiks gelähmt. Selbst die konservative Opposition, sogar die Gewerkschaften machten gute Miene zum bösen Spiel. Sie wollten partout nicht beschuldigt werden, die belebenden Initiativen der rotgrünen Koalition zu blockieren. Die Deutschen schienen mit erstaunlichem Zivilgehorsam – und vielleicht einer Dosis ziviler Weisheit – die bittere Medizin zu schlucken. Umfragen besagten, dass eine klare Mehrheit die Notwendigkeit einsah.

Unsere deutschen Nachbarn zeichnen sich wahrlich nicht durch Neigung zum Chaos aus. Allerhöchstens gestatteten sie es sich, ein bisschen lauter zu meckern als sonst. Die große Sozialreform, über die Frankreichs konservativer Premierminister Jean- Pierre Raffarin gestolpert war, schien Gerhard Schröder als Herkules der Linken ohne Fehl bewältigen zu können. Wieder einmal war Deutschland das Musterkind – und die Franzosen salutierten ehrfurchtsvoll: „Chapeau!“

Und heute? Nach einigen Monaten des Hobelns am sozialen Bewusstsein, dem Bruch zahlreicher Tabus, einer gewitterartigen Gipfel-Nacht des Feilschens sowie mehreren Großdebatten im Parlament brachte Deutschland ein schwächliches Reförmchen zur Welt – per Kaiserschnitt. Und das ziemlich weit abwich von der ehrgeizigen Kulturrevolution, die Gerhard Schröder im Frühjahr mit der Agenda 2010 angekündigt hatte. In Frankreich fiel der Kanzler schnell von seinem Sockel. Zwar lobt die französische Presse nach wie vor die typisch deutsche Demonstration von Einigkeit. Gleichzeitig unterstreicht sie aber die Folgen der Zugeständnisse bei der Steuerreform und versäumt es nicht, auf die perversen Effekte des deutschen Föderalismus hinzuweisen, der jede notwendige Reform ihrer Kraft beraube. In Paris hat der Kanzler den Ruf des politischen Übermenschen eingebüßt, ist wieder ein Regierungschef wie die anderen auch: ein Gefangener des schwerfälligen politischen Räderwerks.

„Tragfähiger Kompromiss“, „wichtiges Signal“, „Deutschland ist reformfähig“: Die Glückwünsche an die eigene Adresse kann Gerhard Schröder nur mit verkrampftem Lächeln vortragen. Natürlich, die Ehre ist gerettet – wären die Verhandlungen fehlgeschlagen, hätte das der ganzen Welt bewiesen, dass Deutschland nicht in der Lage ist, sich aus eigener Kraft zu reformieren. Schnell wäre das Bild eines verbrauchten Landes zurückgekehrt, erstarrt in lähmenden Strukturen, unfähig, mit der Herausforderung der Globalisierung fertig zu werden. Angesichts der Auswirkungen einer solchen Niederlage auf das ökonomische Klima ist der trügerische Kompromiss wohl das kleinere Übel.

Aber wer fällt noch darauf herein? Vorbei ist die Zeit, als die Deutschen als Klassenbeste galten, als verwöhnte Kinder Europas, fest eingenistet in ihrem Wohlstand. Ihr Sozialsystem galt als äußerst großzügig, in den entlegensten Ecken des Planeten sah man ihre Rentner gut gelaunt aus klimatisierten Bussen steigen. Man bewunderte das „deutsche Modell“: mächtige, aber kooperative Gewerkschaften, ein effizientes Berufsbildungssystem, kombiniert mit einer Konfliktvermeidungsstrategie durch sorgfältige Konsenssuche. Ruhige Nachbarn waren die Deutschen, Besserverdiener, vom Staat verhätschelt. Und fest entschlossen, ihren Lebensstandard zu verteidigen, koste es, was es wolle.

Mehr und mehr gibt Deutschland die Figur des kranken Mannes von Europa ab. Das „deutsche Modell“ ist abgenutzt, anachronistisch, zu luxuriös, zu teuer. Die Bilanz der Wiedervereinigung, die demografischen Probleme, das Nullwachstum und die allgemeine Flaute in der Weltwirtschaft haben Deutschland in die Knie gezwungen. Man wird den Gürtel enger schnallen, auf manche Bequemlichkeiten verzichten, strukturelle Lähmungen entkrampfen und akzeptieren müssen, dass sich ein grauer Schleier der Ungewissheit über die Zukunft legt.

Deutschland, das ist heute vor allem ein beunruhigtes Land, dem es schwer fällt, zwischen irrationalen Ängsten und berechtigten Sorgen zu unterscheiden. Die Regierung kündigt an, den Zahnersatz aus dem Leistungskatalog der Kassen zu streichen? Schon beschwören manche eine zahnlose Nation. Die Statistiken suggerieren einen leichten Anstieg der Auswanderungsrate, das Konsulat der australischen Botschaft verzeichnet erhöhten Zulauf? „Rette sich, wer kann!“, titelt der „Stern“ und kündigt eine massive Auswanderungswelle frustrierter Deutscher an. Dieses Klima, das gelegentlich an kollektive Hysterie grenzt, ist eine deutsche Eigenart. Nach einem langen Traum in Rosa sind unsere Nachbarn endlich aufgewacht. Und vielleicht hören wir in Frankreich nun damit auf, die Deutschen insgeheim zu bewundern und zu beneiden. Gesünder wäre das allemal. In jedem Fall aber ist es das Ende eines Mythos.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Foto: privat

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