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Der Anfang der Dekade: die Terroranschläge vom 11. September 2001.

© dpa

Das Ende einer Dekade: Krise ist, wenn man trotzdem lebt

11. September 2001, Finanzkrise, Fukushima und die Euro-Rettung. Eine Dekade geht zu Ende. Und Malte Lehming sagt: Die beherrschenden Gefühle sind negativ.

Es war ein Dienstag, das Wetter schön. Um 8 Uhr 46 fliegt eine Boeing 767 mit 92 Menschen an Bord in den Nordturm des World Trade Centers in New York. 17 Minuten später rast eine zweite Boeing 767 in den Südturm. Um 9 Uhr 30 tritt US-Präsident George W. Bush vor die Presse und sagt, das Land werde offenbar von Terroristen angegriffen. Dieser Tag markiert den Beginn einer Dekade, die in diesen Wochen zu Ende geht.

Wer sie in der Rückschau betrachtet, darf sich allerdings nicht auf den 11. September 2001 und den internationalen Terrorismus beschränken. Geprägt wurde das Jahrzehnt auch von der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise, den emsigen Versuchen zur Euro-Rettung, der Atomkatastrophe von Fukushima und dem Massenmord des fanatischen Muslimhassers Anders Behring Breivik. Es war eine rasende Dekade, wobei „rasend“ sowohl die Geschwindigkeit meint als auch die Wucht. Und wie nie zuvor wurden die Ereignisse von Fernsehzuschauern und Internetnutzern rund um den Globus live verfolgt. Echtzeit-Dramen produzieren einen Zustand der Dauererregung.

Die beherrschenden Gefühle sind negativ: Alarmismus, Verlust, Ungerechtigkeit, Aggression.

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Malte Lehming
Malte Lehming

© Kai-Uwe Heinrich

Bereits wenige Tage nach den Terroranschlägen durchzieht eine moralisch aufgeladene apokalyptische Rhetorik den politischen Diskurs. Pearl Harbor, Dritter Weltkrieg, Armageddon zwischen den Mächten der Freiheit und denen der Finsternis, Achse des Bösen, historische Mission, Kreuzzug. Kaum weniger bedrohlich klingen Jahre später die Horrorszenarien der verantwortlichen Politiker infolge der globalen Finanzkrise. „Das ist eine Strukturkrise, die die Welt zutiefst verändern wird“ (Nicolas Sarkozy). „Das ist eine Krise von historischem Ausmaß“ (Barack Obama). „Eine Bedrohung unserer Gesellschaftsordnung, schwerste Bewährungsprobe seit den 20er Jahren“ (Angela Merkel). „Schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ (José Manuel Barroso). „Geht die Welt bankrott?“ (Der Spiegel).

Ein solcher Alarmismus von oben ist neu. In historischer Perspektive knüpfen sich düstere Prophezeiungen entweder an Gesellschaftskritik – wie bei Karl Marx („Die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation“) oder Thomas Malthus („Bevölkerungsexplosion führt zu dramatischer Nahrungsmittelverknappung“). Oder sie werden von Teilen des Volkes artikuliert – wie zu Zeiten der Friedensbewegten sowie der Umwelt- und Klimaschützer. Wenn indes die Mächtigen, die doch ihren Kopf kühl halten sollen, um jenes Urvertrauen zu gewährleisten, dass alles schon irgendwie gut wird, schrill klingen und martialisch reden, ahnt man Arges.

Der Verlust - mehr dazu auf der nächsten Seite.

Verlust. An Verlusten war die Dekade reich. Der potenziell allgegenwärtige Terror – von Djerba bis Bali, Madrid bis London, Jemen bis Somalia – raubt den Menschen die Sicherheit. Fröhliche Lebensnaivität bleibt nur noch Kindern vorbehalten. Hinzu kommt ein rasanter Autoritätsverlust. Von Terror und Finanzkrise wurden die Herrschenden eiskalt erwischt. Sie wussten nichts, waren unvorbereitet, reagierten auf die eigene Orientierungslosigkeit mit anschließender Hyperaktivität, die oft auch kompensatorische Elemente aufwies. Afghanistankrieg, Irakkrieg, Heimatschutzministerium, Patriot Act, Guantanamo: Das sollen ähnliche Symbole der Entschlossenheit sein wie milliardenschwere Bankenrettungen, Konjunkturprogramme, Stabilitätsmaßnahmen. Oder, wie nach Fukushima, der deutsche Atomausstieg.

Doch allzu deutlich wird in diesen Krisen, wie dünn die empirische Basis für die Handlungsanweisungen ist. Und wie ahnungslos viele Experten sind. Das betrifft neokonservative Visionäre ebenso wie introspektive Finanz- und Haushaltspolitiker. Ein Beispiel aus Deutschland: Noch Ende September 2008 – die Investmentbank Lehman Brothers war pleite, Merrill Lynch verkauft, der Dax unter 6000 Punkte gerutscht, und die beiden größten Baufinanzierer in den USA, Fannie Mae und Freddie Mac, waren wegen drohenden Bankrotts in staatliche Obhut genommen worden – wiegelten Spitzenpolitiker ab. Der deutsche Finanzmarkt sei kaum betroffen, hieß es. „Die Amerikaner haben die Finanzkrise hervorgerufen, und von daher glaube ich, dass vor allem die amerikanischen Steuerzahler und Steuerzahlerinnen gemeinsam an der Lösung der Probleme arbeiten sollten“ (Steffen Kampeter, haushaltspolitischer Sprecher der Union). „Jeder kehrt vor seiner Tür, und fertig ist das Stadtquartier“ (Bundeswirtschaftsminister Michael Glos, CSU). „Kurzfristig Geld ins Feuer zu werfen, das halte ich für den falschen Weg. Das legt nur das Fundament für die nächste Krise in einigen Jahren“ (Michael Meister, Unionsfraktionsvize). Kurz danach predigten alle das Gegenteil. Die Worte „systemrelevant“ und „alternativlos“ gaben die neue Linie vor.

Ahnungs- und Orientierungslosigkeit wiederum produzieren den Eindruck von Gestaltungsohnmacht. Zum Verlustgefühl gehört nämlich auch der Abschied von den USA als letzte potente Ordnungsmacht. Zwischen 2001 und 2010 stiegen die US-Verteidigungsausgaben um 81 Prozent (allein Afghanistan und Irak kosteten 1,3 Billionen Dollar – und das Leben von rund 6000 eigenen Soldaten). Die Erfolge sind eher bescheiden. Wenn’s gut läuft, dürften die letzten Truppen mit dem Prädikat „unbesiegt“ zurückkehren. Doch weder als Antiterrorwaffe noch als Demokratisierungsbeschleuniger haben die Kriege getaugt. Damit nähert sich eine Epoche globaler Interventionen ihrem Ende. Osama bin Laden ist tot, Al Qaida zwar geschwächt, das Terrornetzwerk hat aber gelernt, seine Kommandozentralen schnell zu verlegen.

Auf viele Jahre wird Washington schlicht das Geld für groß angelegte Militärmissionen fehlen. Dem einzig möglichen Weltpolizisten ist die Munition ausgegangen. Er wolle die Welt von hinten führen („leading from behind“), wurde unlängst über Obama kolportiert. Einen Vorgeschmack davon gab er durch sein zögerliches Engagement in Libyen. Zu Syrien beschränkt er sich auf Proteste. Und im Nahostkonflikt wurde ihm, als es um Siedlungsstopp ging, der Kopf gewaschen. Seitdem Stille.

„Macht hat der, auf dessen Wort hin etwas geschieht“, heißt es bei Hannah Arendt. Auf Obamas Wort hin geschieht kaum noch etwas. Das freilich hat weniger mit ihm als mit dem Zustand seines Landes zu tun. Wegen des gigantischen Schuldenberges wurden die USA jetzt zum ersten Mal in ihrer Geschichte von der Ratingagentur „Standard & Poor’s“ herabgestuft. Trotzig wie ein Kind – und ebenso realitätsflüchtig – kommentierte dies Obama: „Unabhängig davon, was irgendeine Agentur sagt, waren wir immer und werden wir immer eine AAA-Nation sein.“ Dana Milbank von der „Washington Post“ schrieb über diesen Auftritt: „Der mächtigste Mann der Welt wirkt seltsam machtlos und unentschlossen, während mächtigere Kräfte das Land und seine Präsidentschaft herunterreißen.“

Das Vakuum, das die USA auf der Weltbühne hinterlassen, wird in absehbarer Zeit niemand füllen. China ist keine globale Ordnungsmacht, Europa desolat, die Nato disparat und ihre Mitgliedsländer sind ebenso zum Sparen verdammt und interventionsmüde wie Amerika. Den Vereinten Nationen fehlen die Mittel; G7, G8 und G20 sind sicherheitspolitisch unerfahren.

Ungerechtigkeit - Mehr dazu auf der nächsten Seite.

Die Sparnotwendigkeit in den USA und Europa – als Folge von dauerhafter Überschuldung, Antiterrorkriegen, globaler Finanzkrise und ungehemmter Macht jener internationaler Finanzmärkte, die Ex-Bundespräsident Horst Köhler einmal als „Monster“ bezeichnete – wird zu Verteilungskämpfen führen, deren Heftigkeit sich gerade erst andeutet. Die Grunderfahrung ist Wut. Tausende von Milliarden Euro wurden in Banken gesteckt, deren Zocker die Krise verursacht haben. Doch die Täter kamen ungeschoren davon, die Opfer werden zur Kasse gebeten. Das Steuergeld, das nun Banken und Unternehmen hilft, wieder großzügige Boni an ihre Mitarbeiter zu zahlen, muss woanders eingespart werden. Auch am Hartz-IV-Regelsatz, an der Bildung, an der Infrastruktur.

In der Finanzkrise gibt es Schuldige und Unschuldige. Anders als Terroranschläge, Kriege oder Naturkatastrophen wird sie nicht als etwas wahrgenommen, was kollektiv bewältigt werden muss. Noch im März 2008 erhielt der Chef von Lehman Brothers, Richard Fuld, eine Extrazahlung von 22 Millionen Dollar, ein halbes Jahr später war sein Traditionsunternehmen pleite. Gebüßt haben das Tausende Kleinaktionäre und Millionen Steuerzahler. Für die Fehler anderer zur Rechenschaft gezogen zu werden: So lässt sich das Ungerechtigkeitsgefühl definieren. Es herrscht innerhalb von Ländern (Bürger vs. Banker; arbeitslose Jugend vs. das System) und im internationalen Verhältnis (Europa vs. USA; Deutschland vs. Griechenland). Da die meisten Sparmaßnahmen noch gar nicht implementiert wurden, stehen die wirklich erbarmungslos geführten Verteilungskämpfe erst noch bevor.

Aggression - Mehr dazu auf der nächsten Seite.

Zur Wut auf die Zocker und jene, die sie mit Steuergeldern (weil systemrelevant und alternativlos) weiterzocken lassen, gesellt sich eine gewisse Form der Autoaggression, jahrelang über seine Verhältnisse gelebt zu haben. Das eint die Anhänger der amerikanischen Tea Party wie die Jugendlichen in Athen, Rom, Madrid und auch London. Denn oft wurde verdrängt, was jetzt mit aller Brutalität ins Bewusstsein tritt – die Verschuldung in den USA und Europa setzte lange vor der Finanzkrise ein. Wie modisch rebellische Gesten und Gefühle mittlerweile sind, zeigt bereits die Werbung. Kein Wunder, dass Che Guevara (Europcar), Fidel Castro (Dacia Logan) und die Kommune 1 (Zalando) zeitgenössische Ikonen der Produktreklame sind. Ein „adidas“-Turnschuh nennt sich gar „riot“ (gewaltsamer Aufruhr).

In der Demokratie müssen sich die Herrschenden bei Wahlen verantworten. Wenn sie populär sind, bleiben sie an der Macht. Eine gewisse Verschuldensdynamik ist diesem System immanent. Wer Bedürfnisse durch Geld befriedigt, macht sich beliebt. Wer spart, wird abgewählt. In seinem Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“ (erschienen 1929, verfasst unter dem Eindruck der Weimarer Republik) hat José Ortega y Gasset den Mechanismus präzise beschrieben: „Wenn die öffentliche Macht sich rechtfertigen will, erwähnt sie mit keinem Wort die Zukunft, sondern beschränkt sich auf die Gegenwart und sagt mit vollendeter Ehrlichkeit: ,Ich bin ein Ausnahmezustand, der von den Umständen erzwungen ist.’ Das heißt von der Gegenwartsnot, nicht von Zukunftsplänen. Dies ist der Grund, dass sich ihre Tätigkeit darauf beschränkt, dem Konflikt der Stunde auszuweichen; sie löst ihn nicht, sondern flieht ihn zunächst unter Benutzung jedes beliebigen Mittels, selbst auf die Gefahr hin, dadurch größere Schwierigkeiten für die nächste Stunde aufzuhäufen.“

Und das Positive? Erfahren Sie mehr auf der nächsten Seite.

Wo aber bleibt das Positive am Ende jener Dekade, die vom internationalen Terrorismus ebenso geprägt wurde wie von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise? Da ist in erster Linie der vielfache Erkenntnisgewinn. Massive Militärinterventionen sind kein probates Mittel gegen Terroristen. Wer immer mehr Schulden anhäuft, geht irgendwann bankrott. Eine Währungsunion (Euro) ohne politische Union funktioniert nicht.

Kluge Menschen wussten das immer. Aber zwischen Wissen und Begreifen liegt oft ein himmelweiter Unterschied. Am Ende dieser Dekade rächt sich die Realität brutal an unserer Begriffsstutzigkeit. In einem „Zeit“-Interview hat das die Bundeskanzlerin, bezogen auf Fukushima und ihren abrupten Atomschwenk, so formuliert: „Ich habe persönlich nicht erwartet, dass das, was ich für mich bis dahin als ein theoretisches und nur deshalb verantwortbares Restrisiko gesehen hatte, Realität wird.“ Und Merkel fügte hinzu: „Ich weiß, dass andere Menschen vor solchen Gefahren durchaus gewarnt haben.“

Sollte die Rache der Realität an unserer Begriffsstutzigkeit das politische Urteilsvermögen schärfen, könnte die vergangene Dekade auch als Phase der Läuterung gewertet werden. Die Arabellion, der Aufstand vieler Araber gegen Despotie und Diktatur, weist schon in diese Richtung – und der Ausbau der globalen Kommunikationsnetze, durch den jedes Stück Erde einflussreiche Allgegenwärtigkeit bekommt. Und zuletzt: Wem es gelingt, in Zeiten von Alarmismus, Verlust, Ungerechtigkeit und Aggression zivil, pragmatisch, tolerant und demokratisch zu bleiben, hat eine Form der Reife entwickelt, die die meiste Hoffnung weckt.

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