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Meinung: Das große Flattern

Die EU muss der Türkei im Kampf gegen die Vogelgrippe helfen

Alexander S. Kekulé Die Nachrichten aus der Türkei wirken wie ein Schock. Mindestens 15 Menschen sind offiziell an der Vogelgrippe erkrankt, drei Kinder sind bereits gestorben. Geflügel in zwölf der 81 türkischen Provinzen soll betroffen sein, von Ostanatolien bis zum 1500 Kilometer entfernten Istanbul. Die Dunkelziffern dürften wesentlich höher liegen.

Wie sich jetzt herausstellt, fallen offenbar schon seit Monaten im ganzen Land die Hühner von der Stange. Auf die ersten Meldungen im Oktober haben die türkischen Behörden nicht reagiert. Wie anatolische Bauern berichten, begann bereits Mitte Dezember ein Massensterben beim Geflügel. Sogar als die ersten Kinder starben und Dutzende von Menschen eine mysteriöse Lungenerkrankung bekamen, wiegelte das Gesundheitsministerium eine Woche lang ab: „Keine Influenza, alles unter Kontrolle.“

Jetzt traut der Regierung keiner mehr. Die Verängstigten stehen in Kliniken und Arztpraxen Schlange. Die Landbevölkerung protestiert und versteckt die Hühner vor den „Exekutionskommandos“. Reiseveranstalter lassen Geflügel von den Speisekarten streichen – was aus medizinischer Sicht Unsinn ist.

Experten befürchten nun, dass die Vogelgrippe nach Mitteleuropa einbricht. Türkische Besucher und Rückkehrer vom Heimaturlaub schleppen zentnerweise Geflügelfleisch in die Länder der Europäischen Union, weil sie niemand über die Tierseuche informiert hat. Die Stimmung an Flughäfen und Grenzübergängen erinnert an die Belagerungen Wiens durch die Osmanen: Hilfe, die Türken kommen. Dabei ist Panik das Letzte, was in der prekären Lage hilft. Durch intensive Aufklärung und konsequente Grenzkontrollen kann die Union den Einbruch der Seuche noch weitgehend verhindern. Dazu muss vor allem der Türkei und ihren armen Nachbarländern geholfen werden, mit dem Vogelvirus fertig zu werden. Ohne massive Unterstützung haben etwa Bulgarien, Georgien und Armenien dazu keine Chance.

Trotz aller Maßnahmen wird es früher oder später auch in Mitteleuropa Fälle von Vogelgrippe geben, jede andere Annahme wäre realitätsfremd. Wenn das Virus es nicht über den Bosporus schafft, wird es eben über Russland und die Ukraine kommen, in deren ländlichen Regionen eine Vogelkrankheit nicht kontrollierbar ist.

Doch die Vogelgrippe ist nicht die Pest (auch wenn die im Mittelalter denselben Weg genommen hat). Das Influenzavirus H5N1 befällt Menschen bisher nur in extremen Ausnahmen und bei engstem Kontakt mit Geflügel. Die türkischen Kinder hatten sich offenbar mit dem Blut infizierter Hühner beschmiert. Viele der in Südostasien Erkrankten atmeten getrockneten Geflügelkot ein. Derzeit gibt es keinen Hinweis darauf, dass das H5N1-Virus in der Türkei gefährlicher wäre als das in Asien, oder dass es gar von Mensch zu Mensch überspringen könnte. Warum in der Türkei auf einmal so viele Fälle auftreten, ist allerdings ungeklärt. Möglicherweise bleiben in anderen Ländern – wie China, das nur sieben menschliche Erkrankungen gemeldet hat – viele Fälle unerkannt oder werden vertuscht. Die Türkei kooperiert eng mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), so dass die mysteriösen Infektionswege jetzt wohl endlich untersucht werden können. Immerhin eine gute Nachricht.

Und Mitteleuropa ist nicht Asien. Die hiesigen Veterinärbehörden können begrenzte Herde der Vogelgrippe unter Kontrolle bringen, wie der Ausbruch in Holland 2003 gezeigt hat. Dazu brauchen sie die Mithilfe einer informierten und aufgeklärten Bevölkerung, die sich durch Bilder von Massenkeulungen, Polizeikordons und Schutzanzügen nicht panisch machen lässt. Die EU sollte deshalb ihre Bürger lieber schon jetzt auf die ersten Vogelgrippefälle einstimmen. Denn eines haben die Fehler der türkischen Behörden gezeigt: Abwiegeln und Abwarten sind die Paten der Panik.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

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