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Meinung: Das Handy macht uns nicht zum Opfer

„Unser Leben ist durch Technik einfacher geworden“.

Wo Dick Christie auch hinkommt, er ruft immer erst mal im Büro an und teilt mit, wo er ab jetzt zu erreichen ist. „Ich bin unter 362-92-96 fürs Erste, und dann bin ich unter 648-00-24 ungefähr für eine Viertelstunde, danach bin ich unter 752-04-20, und dann bin ich wieder zu Hause unter 621-45-98“, teilt er dem Büro mit, und als seine Frau fragt, ob sie nachschauen soll, welche Nummer die Telefonzelle vorm Haus hat – „nur um ganz sicher zu gehen“ –, guckt er verständnislos.

Dick Christie würde sicherlich nicht sagen, dass ständige Erreichbarkeit Stress bedeutet. Für Christie ist eine mögliche Nicht-Erreichbarkeit Stress. Es ist die Sorge, etwas nicht mitzubekommen, und von einer Entwicklung, die ihn angehen könnte, abgeschnitten zu sein und sie auch nicht mehr beeinflussen zu können. Nicht-Erreichbarkeit als Vorstufe zur Macht- und Einflusslosigkeit. So sieht es aus bei Dick Christie, Filmfigur und Running Gag aus Woody Allens „Mach’s noch einmal Sam“ von 1972 – aus seligen Vor-Handy-Zeiten also, die man sich wohl besser zurückwünschen sollte. Oder vielleicht doch nicht?

Mit den Handys kam die Dauererreichbarkeit über den Menschen und dann der Stress. So jedenfalls der Eindruck, der sich aus Studien oder Umfragen ergibt. „Handystress“ ist ein seit 2011 gebräuchliches Wort. Der Mensch ist Opfer der Technik geworden, die ihn nun vor sich hertreibt in den Burn-out oder die Depression, der er passiv ausgeliefert ist. Dass zur Erreichbarkeit auch der Zugewinn an Möglichkeit gehört, andere zu erreichen, kommt überhaupt nicht mehr vor. Der Anrufer ist Täter, der Angerufene sein Opfer, die Erreichbarkeit, von Dick Christie akribisch herbeiorganisiert, ist nun ein Fluch. Zwei der neueren Stress-Studien kamen von Krankenkassen, was man für fürsorglich halten würde, böten sich nicht zugleich auch Burn-out-Präventionskurse an, die zum Teil kostenpflichtig sind.

Nachdem die Menschen erst einfache Telefonierhandys kauften, dann solche mit Fotofunktion und inzwischen internetfähige Smartphones, und „Handystress“ in all den Jahren höchstens an Silvester aufkam, weil die Happy- New-Year-SMS wegen Netzüberlastung viel zu spät ankommen würde, wird im Jahr 13 der Kommunikationsrevolution das Revolutionsvehikel angeprangert. Man kennt so eine Post-Begeisterungs-Verteufelung zum Beispiel vom Umgang mit Ute Lemper. Eben war etwas noch gut, und dann ist es plötzlich schlecht. Das aufgeweckte Kind hat ADHS, und das Handy macht Stress. Die Umdeutung findet immer zum Negativen statt und mündet gerne in einer Diagnose. Krank = Opfer.

Wen seine Erreichbarkeit nervt, den nerven diejenigen, die ihn erreichen. Die nerven aber auch ohne Handy. Und so scheint in der Post-Begeisterungs-Verteufelung immer auch eine enttäuschte Erwartung durch. Das aufgeweckte Kind nervt so schrecklich, und auf den modernen Erreichbarkeitsgerätschaften geht keine Nachricht von Relevanz ein, sondern vor allem Alltagsinformationen. Aber genau die sind doch der Segen. Die Verabredung verschiebt sich, der Kinofilm ist ausverkauft, eine Adresse wurde vergessen, kurze Nachricht, kurzer Anruf, kein Stress. Das Leben ist viel einfacher geworden.

Auch macht die Tatsache, dass man von unterwegs Stellung beziehen kann, manchen Ausflug aus dem Alltag erst möglich. Man kann weg sein, weil das Wegsein keine Vorab-Perfektion mehr verlangt. Statt alles tipptopp zu hinterlassen, setzt man zur eigenen Entlastung auf Erreichbarkeit. „Ich habe diese oder jene Angelegenheit so weit fertig, wenn es Fragen gibt, ruft mich an“, was für eine beruhigende Rückversicherung.

Und zur viel beklagten Nichtmehrtrennbarkeit von Beruf und Privatleben: Wer außer den Stellwerksmitarbeitern der Deutschen Bahn wird denn schon vom Firmenchef im Urlaub angerufen? Welcher Bankangestellte, Klempner, Richter? Muss nicht vielmehr bei jenen, die im Urlaub angerufen werden, der Verdacht erlaubt sein, dass sie während ihrer Nichturlaubszeit den Eindruck pflegen, hey, ich bin für euch da, immer und jederzeit. Die können sich nicht wirklich beschweren, wenn das Angebot angenommen wird.

Dick Christie ringt als Investor am Telefon übrigens mit einem verpatzten Deal in Kalifornien. Da hat er Land gekauft, um einen Golfplatz zu bauen, aber es hat sich herausgestellt, dass es aus Treibsand besteht. Fast schon eine Parabel auf den heutige Handystress: Auch aus Treibsand kommt man am ehesten heraus, wenn man sich ruhig verhält.

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