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Meinung: Das Lager denken

Wir betrachten die Dinge mit jungen und alten Augen

Liebe Kerstin Kohlenberg,

ich unterstelle, nein, ich vermute mal, dass sich bei Ihnen, als Sie Otto Schilys Vorschlag hörten, Flüchtlinge aus Afrika in nordafrikanischen Auffanglagern unterzubringen, sämtliche Rückenhaare (die Sie natürlich nicht haben) sträubten. Sie dachten wahrscheinlich bei Lager an KZ, Gulag, Sibirien, Fußballstadien südamerikanischer Militärdiktaturen, Guantanamo … Ich bin im Nachkrieg als „Heimatvertriebener“ in Lagern „aufgefangen“ worden, wie man damals sagte. Auch danach noch mal, als Flüchtling aus der DDR, in Westdeutschland. Und ich muss Ihnen sagen, dass Lager, so sie nur ein Durchgangs und kein Dauerzustand sind, durchaus erste humanitäre Hilfe bedeuten, Schutz vor Hunger und ärztliche Versorgung. Jedenfalls macht Schilys Vorschlag, der so viel Entrüstung geerntet hat, mehr Sinn, als Verzweifelte aus dem Meer zu fischen, in das man sie getrieben hat. Sollte man nicht Kriegsflüchtlingen die Hoffnung auf Rückkehr in die eigene Heimat erhalten? Ihr Hellmuth Karasek

Lieber Hellmuth Karasek,

nicht an KZ oder Sibirien muss ich denken, sondern an Al Pacino, wie er in „Scarface“ sagt: „Ich heiße Antonio Montana und bin ein politischer Flüchtling aus Kuba.“ Man kann sich eben auch Otto Schily schönreden. Die Behörden glauben Montanas Geschichte nicht, zu Recht, es dauert ein paar Szenen, und er ersticht einen Mann, um aus dem Auffanglager rauszukommen. Klar, ist nur ein Film, ist Kuba und nicht Afrika, aber beide Male geht es um die Hoffnung auf ein besseres Leben und was man dafür alles tut. Nachdem 1980 mehr als 125 000 Kubaner nach Miami fliehen konnten, kam es zum Aufstand in einem Lager, bei dem 40 Menschen starben, und in Miami stieg die Zahl der Überfälle innerhalb von zwölf Monaten um 775 Prozent. Das ist nicht aus dem Film. Ein Auffanglager, in dem Menschen, im Gegensatz zu euch Heimatvertriebenen, nichts haben, keine Vergangenheit und keine Zukunft, schürt Hoffnungen, die es nicht erfüllen will, und Probleme, die es nicht lösen kann. Ich sag nur: Miami weiß. Ihre Kerstin Kohlenberg

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