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Meinung: Das Liza-Minelli-Berlin

Von Roger Boyes Das Gute an Gästen ist ja, dass sie einem die Gelegenheit geben, Berlin mit den Augen eines Fremden zu sehen. Das Schlechte ist, dass man daran erinnert wird, wie armselig die Qualität vieler Unterhaltungsangebote in Berlin ist.

Von Roger Boyes

Das Gute an Gästen ist ja, dass sie einem die Gelegenheit geben, Berlin mit den Augen eines Fremden zu sehen. Das Schlechte ist, dass man daran erinnert wird, wie armselig die Qualität vieler Unterhaltungsangebote in Berlin ist.

Nun, Gäste bereiten natürlich auch noch andere Probleme, die üblichen eben: sie stören die häusliche Routine, haben ein besonderes Geschick, über den Hund zu stolpern, lassen die Koffer im Eingangsbereich stehen und rufen laut „Wo steht denn der Kaffee?“, wenn man gerade versucht, Günther Beckstein am Telefon zu interviewen. („Was ist das für ein Geräusch im Hintergrund?“ – „Gäste.“ – „Aha, und das andere Geräusch?“ – „Ein bellender Hund. Die Türklingel. Das Handy. Noch einmal die Gäste.“ – „Aha.“)

Man sagt, Gäste beginnen, so wie Fische, nach drei Tagen zu stinken. Ich würde das auf 18 Stunden reduzieren.

Letztes Wochenende habe ich mich für die Standardtour, Variante 11 a, entschieden. Sie sind keine Techno-Fans und wissen, dass der Juli nicht die Zeit für Sommerkonzerte ist, deswegen bekommen sie geboten: Reichstag, Shopping, Samstagabend-Entertainment, Sonntagsflohmarkt, kleine Museen. Die Gäste kommen, weil sie gelesen haben (natürlich nicht in meiner Zeitung), dass Berlin ein heißer Tip ist oder, wie wir sagen: cool. Was sie dann bekommen, ist Folgendes: Reichstag. Eine Stunde Schlangestehen im Regen, und, dank des Magazins „Max“, den härtesten und langweiligsten Sicherheitscheck in Europa. „Es war super“, sagte einer der Gäste, „besser als am Flughafen von Los Angeles.“ Das Shoppen war enttäuschend, weil die Gäste dachten, das Ladenschlussgesetz sei reformiert worden. Am Sonnabend, 16 Uhr, wurden sie eines Besseren belehrt. Reisen, sagen sie, erweitert den Horizont.

Das Chamäleon in den Hackeschen Höfen ist ein Ort, wo man Fremde gut hinführen kann, weil die Unterhaltung so körperlich ist. Es war voller Leute aus dem Sauerland, aber Franz Müntefering habe ich nicht gesehen. „Das ist also das wahre Liza-Minelli-Berlin?“, fragte mein Gast. „Ja“, sagte ich. Auf der Bühne stand eine Russin mit einem Hula-Hoop-Reifen. Das Verhältnis von Akrobatik zu Sprachwitz war 84 zu 16 Prozent. Ich habe das auf einem Bierdeckel ausgerechnet.

Sonntagmorgen, Flohmarkt, Straße des 17. Juni. „Das ist super“, sagen meine Besucher, „wie eine Momentaufnahme der Geschichte Berlins.“ Ich stimmte zu und sah mir die Preise an. Die Schreibtische waren teurer als im Antiquitäten-Laden in der Suarezstraße. Nicht meine Vorstellung von einem Flohmarkt. Am Nachmittag: Museum der Verbotenen Kunst. Interessantes Gebäude, sehr bescheidene Ausstellung. Dann das Gruselkabinett – komplett amateurhaft.

Berlin besitzt exzellente Museen, ein berühmtes Nachtleben. Und es gibt viel Mittelmäßiges. Vielleicht sollte es einen Michelin-Führer geben, der Sterne für Qualität vergibt.

„Kommt bald wieder“, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen am Bahnhof Zoo. „Machen wir“, sagten sie, „Simon Rattle zieht im September nach Berlin um.“

Der Autor ist Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“. Foto: privat

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