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Grün-Rotes Baden-Württemberg: Das Musterländle wird Musterland - und wichtig für Berlin

Vor Winfried Kretschmann stehen harte Jahre: Wie kann der Umbau einer wirtschaftlich erfolgreichen Region in eine umweltschonende Gesellschaft gestaltet werden, die konkurrenzfähig bleibt? Die Blaupause ist wichtig für Berlin.

Euphorie sieht anders aus. Da ist eher die Last des historischen Moments zu spüren. „Wo es notwendig ist, werden wir die Politik verändern, dort, wo es möglich ist, werden wir sie verbessern“ – Winfried Kretschmann, der voraussichtlich erste grüne Ministerpräsident, weiß um die großen Erwartungen. Beim Politikwechsel kann es schnell rau zugehen, das hat er schon nach kritischen Äußerungen zur Zukunft der Autoindustrie erfahren, als Unternehmer und Gewerkschafter gleichermaßen protestierten. Erst das Land, dann die Partei, so hat er früh klug angemerkt; es macht frei von überbordenden Heilserwartungen.

Was möglich ist, was gelingen kann, muss Grün-Rot beweisen. „Wer das Wünschbare mit dem Machbaren verwechselt, wird scheitern“, hat Joschka Fischer einst gesagt, der wie kein anderer die Grünen schurigelte und formte. Für das Land, ja, aber für das ganze Land. Was in Baden-Württemberg beginnt, kann ausstrahlen auf die gesamte Bundesrepublik: Das Musterländle wird Musterland. Wie kann der Umbau einer der wirtschaftlich erfolgreichsten und hochtechnisierten Regionen Deutschlands in eine umweltschonende und gerechtere Gesellschaft gestaltet werden, die dennoch global konkurrenzfähig bleibt? Das ist die Aufgabe, an der Kretschmann gemessen wird. Das werden fünf harte Jahre – mit gewisslich enttäuschten Hoffnungen, harten Zerreißproben mit dem Partner SPD und bitteren Niederlagen.

Das Ringen um einen Koalitionsvertrag hat schon einige Bruchlinien spürbar werden lassen – und mögliche Niederlagen. Können die basisorientierten Grünen den Bürgerwillen ignorieren, wenn die vereinbarte Volksabstimmung eine Mehrheit für den Stuttgarter Bahnhofsneubau ergibt? Wie organisiert die Landesregierung die Abschaltung jener vier Meiler des nur teilstaatlichen Energieriesen EnBW, deren andere Anteilseigner eine Energiewende wohl kaum begrüßen werden? Wer dazu Baden-Württemberg bei der Standortsuche für ein atomares Endlager nicht ausschließt, kann sich der Proteste im Ländle gewiss sein. Und die schwäbischen Häuslebauer werden nicht erfreut sein, dass sie mit einer höheren Grunderwerbsteuer den Kita-Ausbau finanzieren dürfen und die Grünen zugleich mit mehr Gemeinschaftsschulen das traditionelle Bildungssystem demontieren wollen. Die Grünen in Hamburg haben bei der Schulreform der gescheiterten schwarz-grünen Koalition vorgemacht, wie man mit der Arroganz der Macht aus der Kurve fliegt.

Der bodenständige Kretschmann hat sich seit dem triumphalen Wahlabend bemüht, die Erwartungen zu dämpfen. Solide regieren, ganz langweilig und frei von grünem Übermut, kann die Richtschnur zum Erfolg sein. Es bleibt genügend, um grüne Akzente zu setzen. Wenn das Land etwa offensiv den Einsatz von Elektrofahrzeugen vorantreibt, wird davon auch die Automobilindustrie profitieren. Die weiß längst, dass sie weltweit nur überleben wird, wenn sie das Auto neu erfindet.

Die Blaupause für eine veränderte Republik, die in Stuttgart gezeichnet wird, ist für Berlin wichtig. Die Siegchancen der grünen Spitzenkandidatin Renate Künast am 18. September werden von der Performance am Neckar beeinflusst. Wer sich streitet, wird abgewählt, wird sich die Unterhändlerin der ersten Berliner rot-grünen Koalition von 1989 erinnern, als die „streitbare Zusammenarbeit“ im Chaos endete. Künasts für die Hauptstadt versprochene „Green New Deal“ ist neben der Kritik an der Wirtschaftspolitik des rot-roten Senats bislang nicht mehr als ein Katalog der guten grünen Absichten – mit zusätzlichen 150 000 Arbeitsplätzen, mit E-Mobility und mehr Tramlinien. Bislang reicht das nicht, um den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, der mit seiner neu erworbenen Wirtschaftskompetenz wuchert, zu überflügeln. So wie Kretschmann den Energieriesen EnBW auf neuen Kurs bringen muss, so wird Renate Künast bei einem Wahlsieg vorbereitet sein müssen, einem privaten Stromkonzern eine umweltentlastende Energieerzeugung abzuringen und den teilprivatisierten Wasserbetrieben niedrigere Preise. Grüne Politik müsse durch das „Nadelöhr der Realität“, sagte einst Joschka Fischer. Das gilt für Stuttgart wie Berlin.

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