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Meinung: Das Nebelwort des Jahres

Rente oder nicht Rente: Nicht überall, wo Reform draufsteht, steckt auch Reform drin

Seit dieser Woche wissen wir also Bescheid. Die Grünen sind echte Reformer, weil sie sagen, dass sie für „strukturelle und umfassende Reformen“ sind. Vor allem bei der Rente. Der SPD-Generalsekretär Olaf Scholz ist ein Blockierer, weil er eine große Rentenreform in den nächsten acht Jahren kaltblütig verhindern will. Gemeinsam mit dem Betonkopf Ludwig Stiegler, der der Reformbremse Scholz „vollkommen Recht“ gibt und zudem noch den Chef der so genannten Reformkommission als Schwätzer beschimpft und so die Fleisch gewordene Reform persönlich beleidigt. Alles ist ganz einfach. Schwarz und Weiß, Rot und Grün, Gut und Böse, Vergangenheit und Zukunft, klar zu unterscheiden, klare Verhältnisse.

Nichts ist einfach. Reformer und Betonköpfe kann man nicht an schlecht sitzenden roten Pullovern oder gut sitzenden Kostümen erkennen. Schlimmer noch. Man kann sie nicht mal mehran dem identifizieren, was sie sagen. Wo Reformer draufsteht, ist nicht gleich Reform drin. Nirgends wird dies so deutlich wie bei der aktuellen Debatte um die Rente. Aber: Was heißt das Reformgerede konkret, übersetzt in praktische Politik? Wer ist wirklich für eine grundlegende, eine strukturelle Rentenreform? In Wahrheit niemand!

Wenn die Begriffe auseinander purzeln, sollte man sie wieder ordnen. Wer eine „strukturelle“ oder „große“ Reform verlangt, muss auch Großes, Strukturveränderndes im Sinn haben. Die Riester-Reform etwa war so eine echte Änderung, weil dem heiligen Prinzip der reinen Beitragsfinanzierung ein kleiner Bruder an die Seite gestellt wurde: die kapitalgedeckte Eigenvorsorge. Man muss diese Änderung nicht gleich historisch nennen wie der Kanzler. Den Reformstempel aber verdient sie gewiss. Die seit Jahren durch die Rentendebatte geisternde Idee einer pauschalen Grundsicherung wäre gar eine Systemreform, die im strukturkonservativen Deutschland einer Revolution gleichkäme. Ebenso das „Modell Dänemark“, wo die Altersversorgung mit einer saftigen Mehrwertsteuer von 25 Prozent finanziert wird, dafür die Arbeit von der Rentenlast befreit ist.

Die Idee der Grundsicherung wurde zwar einst in das Grundsatzprogramm der Grünen gemeißelt, in ihren öffentlichen Forderungen haben die real existierenden Grünen jedoch harmloseres im Sinn. Und deutsche Sozialdemokraten würden das Kanzleramt lieber freiwillig an Edmund Stoiber übergeben, als die eigene Klientel mit etwas so Radikalem zu verschrecken. Nein, außer vielleicht der FDP ist keine Partei zu einer strukturellen Großrefom bereit, die diesen Titel verdient.

Der große Wurf, ein Befreiungsschlag gar, wird in Deutschland also gar nicht diskutiert. Vielmehr debattieren die selbst ernannten Reformer über Änderungen, die alle eine Nummer kleiner ausfallen: darüber, ob künftig auch Beamte und Selbstständige in die Versicherung einzahlen sollen, ob man dem Heer der Frührentner ein paar Euro wegnehmen darf. Oder ob man das Renteneintrittsalter um ein, zwei Jahre erhöhen soll, ob das Rentenniveau noch weiter sinken und die Eigenvorsorge noch größer werden muss. Fragen also, die sich noch innerhalb des alten Systems bewegen – Veränderungen zwar, aber ohne den Hauch des Radikalen.

In diesem Reformradius werden sich auch die Ergebnisse der Rürup-Kommission bewegen. Gegen solche Reförmchen aber hat bislang noch niemand ein Pauschalveto angekündigt. Sollen SPD und Grüne bis dahin ruhig weiter um die Titel „Reformer und Betonkopf des Jahres“ ringen. Erst wenn die Kommission ein Ergebnis vorlegt, wird es spannend, erst dann zeigt sich, wer in der Politik wirklich das Qualitätssiegel Reformer verdient. Und vielleicht ist dann, wenn es um Konkretes, nicht um Image und Attitüde geht, auch ein Olaf Scholz viel beweglicher, als es derzeit scheint.

Markus Feldenkirchen

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