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Meinung: Das Reich der Mitte sucht die Balance

Wachstum allein macht nicht glücklich: Bisher hat sich China als erstaunlich stabil erwiesen – doch nun muss sich die Politik bewegen

Nichts zieht so sehr an wie Geld und gute Geschäfte: Zum fünften Mal seit seinem Amtsantritt ist Gerhard Schröder in China unterwegs. Die häufigen Kanzlerreisen spiegeln die wachsende Bedeutung Chinas für die deutsche Wirtschaft wieder. Mit keinem anderen Land wächst der Handel so rasant wie mit dem Reich der Mitte. Volkswagen verkauft in China mittlerweile mehr Autos als in Deutschland. BMW hat gerade in Nordchina mit der Produktion begonnen. Grund genug für den Autokanzler, öfter in das Land der 1,3 Milliarden zu reisen.

Chinas Erfolgsgeschichte begann 1978 mit der Abkehr von der Planwirtschaft. Aus den Sonderwirtschaftszonen – in den 80ern noch kapitalistische Inseln in der streng-sozialistischen Volksrepublik – entwickelte sich eine der größten und am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Erde. Trotz der weltweiten Rezession wuchs Chinas Wirtschaft in den vergangenen Jahren um durchschnittlich acht Prozent. 300 Millionen Menschen entlang der Küste gehören heute zur neuen Mittelschicht, die sich Wohnungen kauft und auf ihr erstes Auto spart. Zehntausende Studenten gehen jedes Jahr zum Studium in die USA und nach Europa. Anders als früher wollen die meisten anschließend wieder zurück nach China – weil sie sich dort größere Zukunftschancen ausrechnen.

China wird sich in den nächsten Jahren weiter öffnen. Die politische Weichen dafür sind schon lange gestellt. Spätestens seit den Massendemonstrationen von 1989, als Peking das Militär gegen die Studenten schickte, kann sich die Kommunistische Partei nur noch durch Wirtschaftswachstum legitimieren. Zwischen Volk und Partei herrscht ein stilles Abkommen: Solange es den meisten Chinesen jedes Jahr ein bisschen besser geht, wird die KP-Herrschaft nicht angezweifelt.

So weit erfüllen Pekings Führer ihren Teil der Abmachung. Um den Aufschwung am Laufen zu halten, werden Wirtschaft und Gesellschaft immer weiter privatisiert. In Chinas Fabriken schuften Arbeiter heute oft zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Gewerkschaften sind verboten. Schulausbildung, Sozialversicherung und Gesundheitsversorgung gibt es in China nur noch gegen Bezahlung. „Sozialismus mit chinesischem Charakter" nennt das die KP-Führung. Tatsächlich herrscht ein härterer Kapitalismus als in Europa.

Bisher ist China überraschend stabil. In diesem Jahr gelang Peking der erste friedliche Machtwechsel seit Gründung der Volksrepublik 1949: Mit Staats- und Parteichef Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabao übernahm eine jüngere und pragmatischere Generation die Führung. Den Kurs der wirtschaftlichen Öffnung zusammen mit strenger politischer Kontrolle führen sie bislang fort.

Wie lange wird Chinas Stabilität anhalten? Die Kluft zwischen den Gewinnern und Verlierern der Reformen wächst, die gesellschaftlichen Risse werden größer. Chinesen dürfen heute Firmen mit Tausenden Angestellten besitzen, sich amerikanische Importautos kaufen oder über das Frühlingsfest zum Urlaub nach Europa fliegen. Eine unzensierte Zeitung zu lesen ist ihnen jedoch nicht erlaubt. Unter der Oberfläche rumort es: Kaum eine Woche vergeht, ohne dass es irgendwo zu Protesten und Aufständen kommt.

Verarmte Bauern demonstrieren gegen Wuchersteuern. Arbeiter von bankrotten Staatsbetrieben liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Studenten testen im Internet die Grenzen der Zensur. Pekings Führer stehen vor enormen Problemen. Mit Wachstum alleine werden sie das Land nicht mehr lange regieren können.

Harald Maass

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