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Das Tempo der Politik: Im Rausch der Geschwindigkeit

Schnelle Entscheidungen sind riskant; langsame nicht unbedingt besser: Für die Kür von Horst Köhler hatte sich Angela Merkel viel Zeit genommen. Beschleunigung hat durchaus etwas Faszinierendes, doch die Kunst dabei ist das Schalten – auch das Abschalten, Innehalten.

Es ist eine feine Ironie der jüngsten deutschen Geschichte, dass die regierende Politik im Moment ihrer höchsten Beschleunigung einen Mann an die Spitze des Landes stellen will, der zuletzt damit kokettierte, es lieber etwas langsamer angehen zu lassen. Dass ihm der absolute Wille zur Macht fehle und die Bereitschaft, dem alles andere unterzuordnen, hatte Christian Wulff vor einiger Zeit behauptet, und dass er nicht am Zaun des Kanzleramtes zu rütteln gedenke, weil er jemand sei, der sich nach den Öffnungszeiten erkundige.

Wie anders sieht es in diesem Kanzleramt wirklich aus: Die ganze Regierung – ein einziger Convenience-Shop, immer geöffnet, stets zu Diensten. In nur drei Tagen wird ein Bundespräsident gesucht und gefunden, wo sonst vor der Kür Wochen vergehen. Innerhalb von Stunden werden Milliarden in Rettungspakete gestopft, mal für Banken, mal für Länder, weil mit dem Morgengrauen die Börsen öffnen und mit dem eigenen Absturz drohen. Zwischendurch empfängt die Kanzlerin schnell den russischen Präsidenten, dann muss sie gleich weiter zum Krisengipfel: die Koalition retten, Deutschland retten, sich selbst retten.

Die Politik erlebt und erleidet diese enorme Beschleunigung und Verdichtung nicht nur, sie betreibt sie auch – bei sich und anderen. Kinder haben heute eine Lebenserwartung, die an die hundert Jahre reicht, aber sie sollen am besten mit fünf in die Schule und nach zwölf Klassen schon wieder raus. Christian Wulff, er ausgerechnet, findet das „Turbo-Abitur“ prima; volles Tempo auf der Autobahn übrigens auch. Er selbst wird mit 51 wahrscheinlich schon Präsident, als jüngster aller bisherigen Zeiten. Der Sonntag, letzte Insel im Strom der Zeit, wird mithilfe der Politik geflutet; Schnittpunkt von Fluch und Verheißung der rasenden Zeit ist „24/7“: sofort, unverzüglich, an allen Tagen rund um die Uhr.

Immer schneller, immer mehr: Am Freitag erbrachte die Suche nach „Merkel“ bei Google 14 700 000 Treffer in 0,14 Sekunden; am Samstag waren es nach 0,12 Sekunden bereits 14 800 000. Aber wo ist Merkel wirklich? Worauf konzentriert sie, woran orientiert sie sich? Sie hetzt weiter, zum nächsten Termin, an diesem Sonntag geht es wieder um ein paar Milliarden, diesmal sind es nur siebzig, aber rasch muss es gehen, Montagmittag ist schon Verkündung.

Schnelle Entscheidungen sind riskant; langsame nicht unbedingt besser: Für die Kür von Horst Köhler hatte sich Merkel viel Zeit genommen. Beschleunigung hat durchaus etwas Faszinierendes, doch die Kunst dabei ist das Schalten – auch das Abschalten, Innehalten. Wer stets mit vollem Tempo fährt, verfällt nur dem Rausch der Geschwindigkeit. Bei der Wahl des Präsidenten begrenzt die Verfassung die zur Verfügung stehende Zeit; von drei Tagen bis zur Benennung der Kandidaten ist da jedoch nicht die Rede.

Beschleunigung braucht Kraft, das weiß die Physikerin Merkel, Kraft bewirkt die Verformung von Körpern. Ein Teilchenbeschleuniger vermag kleinste Strukturen aufzulösen. Das Tempo, in dem die Politik inzwischen entscheidet, verformt die Demokratie; das Parlament folgt ahnungs- und atemlos, Konsens wird nur noch verordnet. Politische Führung bedeutet in so einer Zeit, zu unterscheiden zwischen scheinbarem und tatsächlichem Druck, bedeutet, Haltung zu zeigen und Orientierung zu geben. Das hat bei der Kür des Kandidaten gefehlt.

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