zum Hauptinhalt

Meinung: Das Verschwinden des türkischen Müllmanns

Von Roger Boyes, The Times

Seit einigen Wochen wird ein Mietshaus am Rathenauplatz von einem orangefarbenen Poster verhüllt, das zwei Männer in guantanamo-artigen Anzügen zeigt, die die Straße kehren. Es handelt sich um Fußballspieler, Marcelinho und Bastürk, und ihre Botschaft ist, dass es cool ist – so cool wie sie –, die Stadt während der WM rein zu halten.

Das ist natürlich nicht falsch, auch wenn das Poster besser gegenüber einem McDonald’s oder einem anderen Fastfood-Laden hinge, wo man mehr in die Verpackung als ins Kochen investiert. Gestern sah ich zwei Männer, die das Poster herunterholten, vielleicht wird es ja an einen nützlicheren Platz gebracht. Aber es rief zwei Fragen hervor. Was empfinden Menschen, die hinter einem Poster wohnen, das acht Stockwerke eines Gebäudes bedeckt und das Licht fern hält? Es könnte natürlich sein, dass die Bewohner unter einer Sonnenallergie leiden und dass das Plakat ein medizinischer Segen ist. Natürlich, um an diesem Platz zu wohnen – Immobilienmakler würden ihn ohne Zweifel „verkehrsgünstig“ nennen – an der Kreuzung mit der Hubertusallee, Königsallee und dem müden, aber autoverstopften Ende des Ku’damms, drei Minuten Fußweg von der Autobahn, überall wird man von einer veritablen Lärmmauer umgeben, einer Kakofonie röhrender Motoren und qietschender Bremsen, also um hier zu wohnen, muss man so taub wie Beethoven sein. Vielleicht sind das ja Nihilisten am Rathenauplatz: Wenn wir schon keine Ruhe haben können, warum sollen wir uns um Sonnenlicht bemühen? Oder so ähnlich.

Meine größte Sorge galt jedoch der Anwesenheit des straßenfegenden Bastürk auf dem Poster. Ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, als ich einen türkischen Müllmann gesehen habe. In den 70ern, als ich hier als Student lebte, sah man sie regelmäßig. Ich kannte ein Mädchen namens Neylan, dessen Müllmannvater kleine Schätze von seiner täglichen Runde nach Hause brachte: einen Biedermeier-Stuhl, an dem nur ein Bein repariert werden musste, Bücher, deren wichtigste Seiten mit Kaugummi verklebt waren, ein Gemälde des Wiener Stephansdoms, das so schlecht war, das es von Hitler hätte stammen können, aber tatsächlich mit „AR“ unterschrieben war. Westberliner Müll half, viele Kreuzberger Wohnungen zu möblieren.

Was ist also passiert? Warum sieht Bastürk als Müllmann so fehl am Platz aus? Weiße Protestanten haben übernommen (dasselbe gilt nebenbei auch für Busfahrer). Mir scheint, dass Folgendes passiert ist: Deutsche schämen sich nicht mehr dafür, den Job eines Müllmanns zu übernehmen. Er wurde zu einem der bestbezahlten Jobs der proletarischen Elite. Seit 1990 wurden Ostberliner Arbeiter zunehmend in das geschlossene Freimaurertum des Mülls aufgenommen – und die Türken, die nach Deutschland gebracht wurden, um deutschen Schmutz zu beseitigen, wurden an den Rand gedrängt.

Der soziale Aufstieg des Müllmanns ist Teil eines internationalen Trends. Britische Müllmänner wurden kürzlich aufgefordert, der Polizei zu helfen. Sie sollen Drogenspritzen melden, die sie in Hauseingängen oder aufgegebenen Autos gefunden haben. Ich finde diese Idee zugleich brillant und abstoßend. Sie spielt mit der Schnüfflermentalität vieler Müllarbeiter und verstärkt ihr Machtgefühl. Warum sollte man nicht tatsächlich ein paar Bullen feuern und eine Müllpolizei aufbauen? Einer meiner Müllmänner sieht sogar wie Kojak aus.

Die Aufwertung der Müllmänner kann natürlich auch gefährlich sein. In Bagdad, wo die Müllmänner Schiiten sind, wurden 22 im letzten Monat getötet. Ihr Fehler: Immer, wenn sie Bomben gefunden haben, die am Straßenrand zwischen Müllsäcken versteckt waren, haben sie es der Polizei gemeldet. Sunniten bringen sie um, weil sie ihre Bürgerpflichten erfüllen.

Nun, das wünsche ich Kojak und seinen Kollegen natürlich nicht, selbst wenn sie aus ihrer Morgentour eine irritierend laute Wagnervorführung machen. Ich bin sogar froh, dass Müll in der Gesellschaft aufgewertet wurde (dank sieben Jahre müllfreundlicher rot-grüner Regierung). Und Müllmänner werden besser bezahlt als früher. Aber ich bedauere dennoch, dass der türkische Müllmann Geschichte ist. Das ist Teil eines Prozesses, bei dem die türkische Gemeinde für die wohlhabenderen Bezirke Berlins immer unsichtbarer wird. Könnte es sein, dass die Gewerkschaften, die eigentlich der Chancengleichheit und der Multikulti-Ethik verpflichtet sein sollten, die Diskriminierung der Türken tolerieren? Natürlich nicht.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false