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Der britische Premierminister David Cameron verfolgte in Riga eine eigene Agenda.

© dpa

David Cameron zu Besuch bei Angela Merkel: Braccident statt Brexit

Die deutsche Kanzlerin kommt dem britischen Premier entgegen – aber um die Kernfrage macht auch sie einen Bogen. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Moritz Schuller

David Cameron reist gerade von Land zu Land, um für seine EU-Reformpläne zu werben. In Polen bekam er dabei zu hören: „Falls jedes Land mit Sonderwünschen für die EU-Politik kommt, wäre das das Ende der europäischen Konstruktion.“ In Berlin ist er bemerkenswert gut weggekommen. Nach ihrem Treffen mit Cameron sagte Angela Merkel: „Gegebenenfalls ist es auch im deutschen Interesse, bestimmte Änderungen vorzunehmen.“ Das ist deutliches verbales Entgegenkommen der Kanzlerin. Die Frage ist nur, ob es Cameron, der seinen Landsleuten ein EU-Referendum versprochen hat, viel hilft.

Das Narrativ Europas steht auf dem Spiel

Das historische Narrativ Europas hat bisher von der Illusion gelebt, dass Europa zusammen gehört und zusammen stärker ist als allein. Doch dieses Narrativ bröckelt. Christine Lagarde, die Chefin des Internationalen Währungsfonds, hat gerade erst die Möglichkeit eines Austritts Griechenlands aus der Eurozone ins Spiel gebracht. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel schreibt in der „Bild“: „Wir brauchen in Europa mehr Mut zu unterschiedlichen Geschwindigkeiten in der Zusammenarbeit … Nicht jeder muss alles mitmachen. Wir brauchen aber mehr vertiefte Zusammenarbeit unter dem Dach der EU.“ Die alte Debatte um ein Kerneuropa sah ein Europa der zwei Geschwindigkeiten vor – bei Gabriel sind es schon „unterschiedliche“ Geschwindigkeiten. Damit steht aber das Narrativ Europas auf dem Spiel.

Nicht zuletzt durch die quälend unproduktiven Verhandlungen mit der griechischen Regierung ist der Glaube an das „wir“ schwächer geworden und etwas bisher undenkbare vorstellbar: Möglicherweise wäre die Union in Zukunft ohne London politisch und ohne Athen wirtschaftlich stärker.

"Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg"

Angela Merkel hat, möglicherweise auch als Reaktion auf Lagarde, ihren Sprecher sagen lassen, dass „wir darauf hinarbeiten wollen, dass Griechenland Teil des Euroraums bleibt“. Sie kämpft für das alte Narrativ, und das bedeutet, dass Europa ohne Briten und Griechen schwächer ist.

Aus britischer Sicht ist es Merkel, die in Europa die Geschwindigkeiten kontrolliert. Doch das ist eine Illusion. Es gibt in Wahrheit niemanden, der die Debatte, in welcher Form und Größe die EU eine Zukunft hat, führen möchte. Auch Merkel nicht. Die Europa-Politik Europas besteht stattdessen aus Drohungen, Beteuerungen und Forderungen – und aus dem Verschleppen von Entscheidungen. Die Kanzlerin hat ihr Treffen mit Cameron eben auch nicht dazu genutzt, sich hinter ein großes, dringend gebotenes europäisches Reformvorhaben zu stellen, sie hat vielmehr die deutschen Interessen betont. Und sie hat gesagt: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, das hat Europa schon häufig bewiesen.“

Doch gerade das stimmt nicht: Europa schafft es nicht, sich über seinen Willen zu verständigen – und deshalb findet es auch keinen Weg. So ist aus der Möglichkeit eines Grexits nach Jahren der Verhandlungen in Europa ein Graccident geworden, ein ungesteuerter Prozess. Dem Brexit könnte nun dasselbe drohen: dass die Gelegenheit, die Zukunft der EU zu diskutieren, schlicht verstreicht, weil alle vom „wir“ reden, ohne zu wissen, wer damit heute überhaupt gemeint ist. Damit wäre dann, wie auch das Schicksal des Euro, die britische Mitgliedschaft in der EU dem Zufall überlassen.

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