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Die Mehrheit wählt. Volksentscheide werden immer populärer.

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Debatte über mehr direkte Demokratie: Volksentscheide über Europa? Lieber nicht!

Zwar hat Deutschland keine schlechte Erfahrung mit Bürgerentscheiden gemacht. Dennoch fängt, wer mehr direkte Demokratie will, am besten in der Nähe an. Denn es will wohlüberlegt sein, welche Fragen zur Volksabstimmung auf nationaler Ebene freigegeben werden.

Der Vorschlag hat Charme: Lasst die Bürger öfter entscheiden! Sie sind der Souverän. Ist Beteiligung nicht das beste Mittel gegen die Politikverdrossenheit? Außerdem setzen Volksabstimmungen die Politiker unter Druck, für ihre Vorschläge offensiv zu werben.

Deutschland hat keine schlechte Erfahrung mit Bürgerentscheiden gemacht. Was auch immer die oder der Einzelne von Münchens Olympiaplänen (und vom Geschäftsgebaren des IOC) hält, das vierfache Nein in der Stadt und den umliegenden Austragungsorten war ein eindrucksvolles Votum, getragen von klaren Mehrheiten bei hoher Wahlbeteiligung. Die Volksabstimmung in Baden-Württemberg über das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 wurde gar zu einer aufklärerischen Korrektur. Zuvor hatte die Protestbewegung den Eindruck erweckt, für eine schweigende Mehrheit zu sprechen. Doch dann stimmten 59 Prozent für den Weiterbau. Die Entscheide über die Rekommunalisierung der Stromversorgung in Hamburg und Berlin zeigten, dass der Ausgang nicht immer vorhersehbar ist.

Direkte Demokratie ist ein Lernprozess

Diese Erfahrungen widerlegen die früher üblichen Einwände: Bei solchen Abstimmungen erhielten, erstens, emotional aufgeladene oder ideologisch motivierte Kleingruppen ein übermäßiges Gewicht, denn die „normalen“ Bürger fühlten sich nicht angesprochen. Zweitens müsse man bei den Deutschen angesichts ihrer Verführbarkeit im „Dritten Reich“ besonders vorsichtig sein. Das gilt so pauschal nicht mehr. Direkte Demokratie ist freilich ein Lernprozess, sie muss geübt werden. Das lehrt die Schweiz. Deren Bürger nehmen ihre Verantwortung so ernst, dass man ihnen selbst Ausgabenprogramme und deren Finanzierung überlassen kann, ohne dass dies zu leeren Kassen führt. Welchem anderen Volk in Europa wäre das zuzutrauen?

Es will wohlüberlegt sein, welche Fragen zur Volksabstimmung auf nationaler Ebene freigegeben werden. Am besten beurteilen können Bürger, was sich vor ihrer Haustür abspielt. Je ferner der Schauplatz und je komplizierter die Materie, desto schwieriger wird es, sich ein Urteil zu bilden. Deshalb weckt der Vorstoß der Koalitionsarbeitsgruppe Misstrauen. Sie möchte die Bürger ausgerechnet in der Europapolitik entscheiden lassen. Jetzt mal im Ernst: Der Durchschnittsbürger soll beurteilen, ob man den Euro retten kann und soll und auch wie? Und von ihm ist ein abgewogenes Votum zu erwarten, ob ein neues EU-Mitglied langfristig mehr nutzt oder schadet?

Je näher, desto besser

Das klingt, als wollten Politiker die Verantwortung für die vertrackten und unpopulären Fragen auf die Bürger abwälzen. Hätte das Prinzip bei der Ost–Erweiterung nach dem Mauerfall gegolten, hätten weder Polen und Ungarn noch die Baltischen Staaten beitreten können. In Umfragen gab es nie auch nur annähernd eine Mehrheit dafür; heute ist unstrittig, welchen Nutzen Europa und besonders Deutschland davon hat.

Darf man an die zwei irischen Referenden über den Vertrag von Nizza erinnern? Das Nein beim ersten Votum hatte wenig mit dem Vertrag zu tun, dafür viel mit dem aufgestauten innenpolitischen Zorn. So verlangte Europa, dass die Iren ein zweites Mal abstimmen und sich korrigieren – wie peinlich! Und gewiss keine Empfehlung für Volksabstimmungen über EU-Fragen.

Wer mehr direkte Demokratie will, fängt am besten in der Nähe an. Volksabstimmungen über Stromversorgung und deren Kosten – Ja! Europa ist auf absehbare Zeit so fern und kompliziert, dass es besser bei den gewählten Volksvertretern und ihren Fachberatern aufgehoben ist.

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