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Immer wieder sind Atomkraftgegner zuletzt auf die Straße gegangen.

© dpa

Debatte um Atomausstieg: Aktionismus als Stilmittel deutscher Politik

Der Atomausstieg ist nicht zu Ende gedacht, findet der Unternehmer Stefan Quandt. Auf einmal kann es nicht schnell genug gehen. Und so kommt es, dass der Regierungsbeschluss Planwirtschaft und Planlosigkeit mischt.

"Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.“ Dieser Ausspruch Karl Valentins kommt mir in den Sinn, wenn ich die aktuelle Diskussion um den Atomausstieg in den Medien verfolge. „Die Kernenergie ist politisch nicht mehr vermittelbar“, heißt es aus der Politik. „Beim Abschalten von Atomkraftwerken wächst die Gefahr von Stromausfällen“, warnen Netzbetreiber und Stromkonzerne. „Strom muss bezahlbar bleiben, alles andere ist Gift für Konjunktur und Wettbewerbsfähigkeit“, meldet sich die Wirtschaft zu Wort.

Alles gesagt, alles ausgesprochen – aber hat irgendjemand dem anderen wirklich zugehört? Ein Mitglied der Ethikkommission der Bundesregierung hat das große Fragezeichen und damit das Kernproblem der Atomdebatte für mich einleuchtend mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht: „Die öffentliche Debatte über die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland greift zu kurz. Denn sie kreist im Wesentlichen um die Angst vor einer atomaren Katastrophe.“ Diese Worte stammen nicht etwa von Herrn Hambrecht, dem einzigen Vertreter der Industrie in diesem Gremium. Sie stammen auch nicht von einem Vertreter der großen Energieversorger – einen solchen gab es in diesem Gremium gar nicht. Nein, diese Worte stammen vom Erzbischof von München, Reinhard Kardinal Marx – und wahrscheinlich konnte auch nur ein Kirchenvertreter diese Äußerung tätigen, ohne dafür von den Atomkraftgegnern – seien es alte Ideologen oder neue Populisten – in der Luft zerrissen zu werden.

Die Bilder der havarierten Reaktoren in Fukushima haben uns alle nicht kalt gelassen. Im Gegenteil: Dass die Atomenergie-Organisation IAEO in einer Hightech-Nation wie Japan dem havarierten Atomkraftwerk eine „unzureichende Auslegung auf vorhersehbare große Tsunamis“ attestiert, macht betroffen und auch ratlos. Und dass der Betreiber bis zum heutigen Tage den GAU nur mit unerprobten und improvisierten Maßnahmen in Grenzen hält, ist beeindruckend und beängstigend zugleich. Aber die Angst allein, solch eine atomare Katastrophe könne sich auch in Deutschland ereignen, ist kein guter Ratgeber. Nicht für den Bürger bei der Wahl seines nächsten Landtags, und schon gar nicht für Politiker, die schwierige und weitreichende Entscheidungen für die Zukunft unseres Landes zu treffen haben. Und die dabei Fragen zu beantworten haben, die nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten sind.

Angst ist ein tiefes, aber unspezifisches Unbehagen. Sie kann lähmen, sie kann aber auch Panik verursachen – und deshalb Wege verstellen, mit den Herausforderungen der Welt zurechtzukommen. Und so ist der von der Angst vor der atomaren Katastrophe initiierte – und von der Angst vor dem Machtverlust bei Landtagswahlen beschleunigte – Atomausstieg aus meiner Sicht nicht zu Ende gedacht.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich persönlich kann aufgrund meiner eigenen Wahrnehmung und Interpretation der Ereignisse in Japan sehr gut nachvollziehen, was die Bundeskanzlerin am 9. Juni im Bundestag erklärt hat, ich zitiere: „So sehr ich mich im Herbst letzten Jahres im Rahmen unseres umfassenden Energiekonzeptes auch für die Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke eingesetzt habe, so unmissverständlich stelle ich heute vor diesem Haus fest: Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert.“ Und so bin auch ich fest davon überzeugt, dass wir in diesem Jahrzehnt den Umbruch bei der Gewinnung, beim Verbrauch, bei der Speicherung und Verteilung von Energie vorantreiben sollten.

Es ist richtig, wenn Windräder, Solarparks und -dächer sowie Blockheizkraftwerke zunehmend die Rolle konventioneller Energieträger übernehmen. So wird zum Beispiel in der Solartechnologie sehr bald die sogenannte „Netz-Parität“ erreicht sein – dann kann der Strom aus der eigenen Solaranlage zum gleichen Preis wie der Strom aus der Steckdose erzeugt werden. Und ich teile auch die Meinung, dass dies natürlich auch eine große Chance für die deutsche Wirtschaft ist. Schon jetzt haben deutsche Unternehmen einen Anteil von 17 Prozent am Weltmarkt der erneuerbaren Energieformen. In der Vergangenheit hat sich schon häufig gezeigt, dass die Verschärfung von Umweltstandards als Technologietreiber wirken kann. Ein gutes Beispiel dafür ist in den achtziger Jahren die Entwicklung von End-of-Pipe-Technologien in der deutschen Fertigungsindustrie gewesen: Deutsche Katalysatortechnik und Entschwefelungsanlagen wurden auf den Weltmärkten zu technologischen Bestsellern.

Alle diese Argumente für einen beschleunigten Atomausstieg sind richtig. Und dennoch gibt es ein großes „Aber“. Denn was mir Sorge bereitet, ist der politische Aktionismus, der den Transformationsprozess zum Atomausstieg in Deutschland begleitet. Dabei fing es so gut an: Aus meiner Sicht war das dreimonatige Moratorium, bei dem es um eine technische Bestandsaufnahme aller deutschen Kernkraftwerke und eine Überprüfung aller Risikoannahmen ging, genau die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit. Und ich hätte großes Verständnis gehabt, wenn man das Moratorium noch einmal verlängert hätte, einfach weil man für diese komplexe Aufgabe mehr Zeit braucht.

Reagieren wir angemessen auf Gefahren und Herausforderungen, während die europäischen Nachbarn sich sorglos den Risiken aussetzen? Lesen Sie mehr dazu auf der nächsten Seite.

Aber ich habe bis heute kein Verständnis dafür, dass kurz nach Verkündung des Moratoriums – und somit ohne aktualisierte Datenbasis – ein medialer Wettlauf aller Parteien um das frühestmögliche Ausstiegsdatum begann, dessen Intensität erkennen ließ, dass am Ende die Ergebnisse der angestoßenen Untersuchungen keinen Einfluss mehr auf die grundsätzliche Entscheidung haben würden. Und so kam es dann auch: Das Ergebnis der Reaktorsicherheitskommission, dass alle deutschen Kernkraftwerke – und zwar unabhängig vom Baujahr und nur mit Ausnahme eines Terrorangriffes aus der Luft – auf Jahre hinaus sicher betrieben werden könnten, wurde politisch weitestgehend ignoriert. Die Vorschläge der Ethikkommission fanden dagegen nahezu unreflektierte Zustimmung.

Nichts gegen die Ethikkommission: Aber wie sachverständig kann ein Gremium beraten und urteilen, in dem zwar Politiker, Kirchenvertreter, Soziologen und Wissenschaftler sitzen, aber kein einziger Vertreter der Energiewirtschaft – und zwar weder der „klassischen“ noch der erneuerbaren Energieindustrie? Eine Zusammenführung und übergreifende Abwägung der Ergebnisse beider Kommissionen fand auf der politischen Ebene nicht statt.

Und so stehen wir nunmehr vor einem Regierungsbeschluss, in dem sich Elemente der Planwirtschaft und der Planlosigkeit in unheilvoller Weise vermischen. Ich sehe Planwirtschaft in den großen Pinselstrichen, so in dem Verbot für Unternehmen, genehmigte und bestätigt sichere Anlagen ab sofort nicht weiterbetreiben zu dürfen, sowie in der Festlegung enger Zielkorridore für die Anteile bestimmter erneuerbarer Energien am zukünftigen Energiemix. Planlosigkeit sehe ich darin, einen Ausstieg zu beschließen, ohne im Detail die notwendigen Voraussetzungen für einen Einstieg in neue Technologien zu schaffen.

Wenn man solch ein komplexes System wie die Energieversorgung des Industrielandes Deutschland verändern will, hätte man sich mehr als drei Monate Zeit nehmen müssen. Lassen Sie mich zur Verdeutlichung einige Fragen anführen, die aus meiner Sicht in dieser Frist nicht zu beantworten sind: Zu Kohlekraftwerken: Schreiben wir die CO2-Ziele in den Wind, oder werden wir die bisher noch zu teure Carbon Capture & Storage-Technologie aktiv fördern? Zur Windenergie: Werden die Menschen bis 2020 bereitwilliger als bisher Windräder und die Strommasten für 4450 Kilometer neu zu errichtender Stromautobahnen vor ihrer Haustür akzeptieren, oder bekommen wir ein entsprechendes Enteignungsgesetz? Zur Fotovoltaik: Warum beschränkt man die Förderung der Eigennutzung dezentraler Anlagen auf kleine Flächen, und warum wird der Ausbau bei Überschreitung bestimmter Grenzen durch zusätzliche Absenkung der Förderung bestraft? Zum intelligenten Stromnetz, dem sogenannten „Smart Grid“: Wie schnell und wie teuer wird der Umbau der Versorgungsnetze, und wie speichere ich regenerative Energie an wind- und sonnenreichen Tagen, um sie nachts und bei Flaute verfügbar zu haben?

Und als letztes Beispiel dieser Liste, die keineswegs abschließend zu verstehen ist: Was geschieht mit den dauerhaft vom Netz gegangenen Atomkraftwerken, und wer trägt die für den vorzeitigen Rückbau anfallenden Kosten? „Auf diese Fragen“, so heißt es lakonisch in einem Kommentar der „FAZ“, „hätte man denn schon gern Antworten, bevor Hebel umgelegt werden“ . Nicht nur die „FAZ“, auch unsere direkten europäischen Nachbarn sind von der Geschwindigkeit, mit der die Bundesregierung in Abstimmung mit den Landesregierungen die Energiewende vollziehen will, überrascht. Und ich gestehe offen: Ich bin es auch und mit mir viele andere in Wirtschaft und Politik, bis hinein in die Koalitionsparteien.

Die Kommentatoren beschreiben die Wende in der Atompolitik mit einer „Operation am offenen Herzen der Volkswirtschaft“. Komplikationen sind dabei nicht auszuschließen, vor allem, da der erste Schnitt bereits gesetzt wird, ohne dass alle notwendigen Instrumente zur erfolgreichen Durchführung des Eingriffs bereitliegen. Doch leider muss man zu dem Eindruck gelangen, dass Aktionismus mittlerweile ein Stilmittel deutscher Politik ist. So bricht vor wenigen Wochen ein Vulkan aus, eine Aschewolke entsteht und in Norddeutschland werden alle wichtigen Flughäfen geschlossen – während in Amsterdam weitergeflogen wird. Oder denken wir an die Aussetzung der Wehrpflicht – an den Konsequenzen dieser im Grundsatz richtigen, aber ebenfalls schlecht vorbereiteten und überstürzt getroffenen Entscheidung müht sich gerade der neue Verteidigungsminister ab.

Und so stellt sich die Frage: Reagieren wir angemessen auf Gefahren und Herausforderungen, während die europäischen Nachbarn sich sorglos den Risiken aussetzen? Oder neigen wir zu Hysterie und überstürzten Reaktionen?

Der Zielquadrant jeder politisch verantwortungsvollen Energiewende eines Industrielandes muss meiner Meinung nach lauten: Sicherheit in der Erzeugung, Sicherheit in der Versorgung, Umweltfreundlichkeit und Bezahlbarkeit.

Wir benötigen daher einen sorgfältig durchdachten, technologisch zuverlässigen, ausgewogenen und zukunftsweisenden Energiemix, der den Weg zu einer langfristig atomfreien, primär dezentralen Energieversorgung aus regenerativen Energiequellen ebnet. Der Wettlauf in diese Zukunft hat bereits begonnen. Die USA investieren vier Milliarden Dollar in die Entwicklung von Smart Grids, und auch China steckt Milliardenbeträge in die neuen Netze.

Was ich mir in dieser Situation von den politisch Verantwortlichen wünsche, sind sorgsam durchdachte und von Sachverstand getragene Szenarien. Es geht um vernetztes Denken, und nicht allein um Fragen wie „mit oder ohne Atom“ und „Windkraft oder Fotovoltaik“. Es geht um eine Road Map, die klare Ziele formuliert, einen realistischen Zeitplan unterlegt, diesen durch Maßnahmen mit Anreizwirkung ergänzt – und gesetzlich absichert.

Daher sind wir alle aufgerufen, den Prozess der Energiewende aktiv und kritisch zu begleiten und von der Politik dieses vernetzte Denken einzufordern. Denn nur so kann aus der Energiewende ein verantwortungsvoller Systemwandel hervorgehen und der Eindruck des hektischen Turnarounds bei einem Großteil der deutschen und internationalen Öffentlichkeit abgewandt werden. Nur so kann die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie in jeder Phase des Übergangs zu einem zukunftsfähigen und nachhaltigen Energiemix gewahrt werden. Kurz: Nur so hat die deutsche Volkswirtschaft eine Chance, die Operation am offenen Herzen gut zu überstehen.

Der Autor ist Unternehmer. Der Text ist die Begrüßungsrede zur Verleihung des Herbert Quandt Medienpreises 2011.

Stefan Quandt

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