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Steht immer noch in der Kritik: Günter Grass

© dapd

Debatte um Grass' Israel-Gedicht: Wer ins Hamam geht, schwitzt

Man sollte Günter Grass nicht einfach als Antisemit stigmatisieren. Wundern braucht er sich darüber aber auch nicht - vor allem weil die deutsche Debattenkultur mehr und mehr einem Brettspiel gleicht.

Über Ostern war ich bei meiner Familie in Duisburg. Auch Muslime verstecken Ostereier für ihre Kinder, knacken Schokoladenhasen und essen sie von den Ohren nach unten, um sich die dicke Bodenplatte bis zum Schluss aufzuheben. Ich mache dabei immer die Augen zu. Wenn ich nicht sehe was ich esse, schlägt es auch nicht auf die Hüften.

Was ich zu Hause besonders mag, sind die Abende, an denen wir alle in der Küche sitzen, erzählen und Brettspiele spielen. Nebenher lief im Fernsehen diesmal ein Bericht über das Grass-Gedicht. Dieses Ereignis wäre fast an mir vorbeigerauscht, weil ich so tief im wohligen Familienleben abgetaucht war. Dann kam mir eine Idee, ich erfinde ein deutsches Brettspiel, das ich „Tabubruch“ nenne. Wie auch in der Realität, wird es nach festen Regeln gespielt.

Einer zieht die Karte des Tabubruchs und sagt, was er unbedingt sagen muss. Der nächste zieht die Ritualkarte und bestimmt die Laufrichtung des Spiels. Ein weiterer Mitspieler darf auf einer Drehscheibe den erhobenen Zeigefinger an der Reflexscheibe drehen. Das bedeutet, er muss entweder die öffentliche Empörung organisieren oder dem Tabubrecher zur Seite springen.

Dann gibt es noch einen Stapel Medienkarten, die beidseitig bedruckt sind und auf die nur der zugreifen kann, der die höchste Zahl würfelt. Auf der einen Seite steht das Schlagwort, das den Tabubrecher diskreditiert und auf der anderen Seite jenes, das ihn rehabilitiert. Dafür gibt es jeweils Aufmerksamkeitspunkte. „Tabubruch“ funktioniert aber nur als Mannschaftsspiel, denn man braucht unbedingt die gegnerische Mannschaft, die stets neue Vorlagen liefert, für die es dann Schlagwortpunkte, Reflexpunkte sowie Aufmerksamkeitspunkte gibt. „Tabubruch“ ist ein schnelles Spiel und hat nur ein Ziel: Es geht einzig und allein darum, möglichst viele Punkte abzugreifen.

Würde dieses Spiel irgendwann langweilig werden? Nein, denn es wird mit solcher Verve gespielt, dass es mit jedem neuen Thema funktioniert. So wie im richtigen Leben.

Für manche ist Geschichte wie ein Museumsbesuch, für andere offenbar eine Beschäftigung mit den eigenen, noch offenstehenden Fragen. Das macht die Fragen nicht unwichtiger, nur erklärungsbedürftiger. Aber geht es dem alten Mann mit seiner letzten Tinte eigentlich darum? In jedem Fall sind hölzerne Zuspitzungen für niemanden ein Gewinn. Jemand, der sich für Sinti und Roma einsetzt, wegen des Asylkompromisses aus der SPD austrat und schon in den sechziger Jahren in Israel die Mitglieder der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Danzig aufsuchte, sich seit Kriegsende für Demokratie einsetzt, den kann man nicht einfach so als Antisemiten stigmatisieren.

Wer aber sein quälendes Schweigen als Seniorenschnitzel so niederschwellig, berechnend und dazu noch rechtzeitig zu Ostern unter die Meute wirft, braucht sich nicht zu wundern, wenn selbst die kleinsten Dackel danach schnappen. Schade um unsere Gesellschaft und unser Land, wenn Debatten und Diskurse nur noch als Inszenierungen stattfinden. Oder wie mein Vater sagen würde: „Hamama giren terler“ – wer ins Hamam geht, schwitzt.

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