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Demonstrationen in Israel: Aus der Mitte der Gesellschaft

Die Demonstranten haben „Angst, Angst, Angst“. Hunderttausende Israelis jubelten Samstagabend zu diesen Worten eines der Anführer der landesweiten Protestbewegung gegen die überhöhten Mieten und Lebenshaltungskosten und für „gesellschaftliche Gerechtigkeit“.

Die Demonstranten haben „Angst, Angst, Angst“. Hunderttausende Israelis jubelten Samstagabend zu diesen Worten eines der Anführer der landesweiten Protestbewegung gegen die überhöhten Mieten und Lebenshaltungskosten und für „gesellschaftliche Gerechtigkeit“. Der erste Satz stammt aus einem Song des bekanntesten israelischen Liedermachers Schlomo Arzi (der später auch dieses Lied mit den Demonstranten sang). Für den zweiten könnte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Urheberrechte beanspruchen, denn mit diesen Worten hetzte er im Wahlkampf vor einigen Jahren seine Anhänger gegen die sogenannten „Eliten“ auf, die Bildungsbürger, den Mittelstand, von denen er keine Stimmen erwartete. Nun haben sich diese erhoben und schleudern ihm seine Tirade zurück ins Gesicht.

Und das, obwohl die Organisatoren der Demonstrationen meist darauf verzichteten, den Sturz des Ministerpräsidenten und der Regierung zu fordern oder deren umstrittene Siedlungspolitik zu attackieren – auch, um viele Siedler auf ihre Seite zu ziehen. Tatsächlich umfasst die Protestbewegung alle Bevölkerungsschichten. Die alle Erwartungen übersteigenden Teilnehmerzahlen bei den Demonstrationen – von 30 000 vor zwei Wochen zu nun über 300 000, – in einem 7-Millionen-Land eine Sensation – haben bei den Regierenden Angst ausgelöst und bei den Protestierern ein ebenso berechtigtes Selbstbewusstsein.

Nun verspricht Netanjahu nebulös, bis Ende September den Entwurf einer neuen, sozialen Gesellschaftspolitik vorzulegen. Doch niemand nimmt ihm dieses Versprechen ab. Denn erstens hat er längst seine Glaubwürdigkeit verspielt. Zweitens lehrt die Erfahrung, dass er tatsächlich kaum je ein Versprechen eingehalten hat. Und drittens müsste er sein zweitwichtigstes ideologisches Prinzip, die ständigen einseitigen Zugeständnisse zugunsten der Reichen, über Bord werfen.

Von seinem wichtigsten politischen Glaubensbekenntnis, demjenigen zu Groß-Israel mit hunderttausenden Siedlern, hat er sich zwar auch öffentlich vor zwei Jahren verabschiedet, indem er der „Zwei-Staaten-Lösung“ zähneknirschend zustimmte. Für deren Verwirklichung hat er seitdem aber nichts unternommen. Im Gegenteil: Hätte er die für die Siedlungsaktivitäten verschleuderten Milliarden etwa zur Bekämpfung der Wohnungsnot aufgewendet, wären die heutigen Proteste der Bevölkerung wohl erheblich milder oder gar ganz ausgefallen.

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