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Meinung: Denn sie wissen nicht, wer sie sind

Die CDU müsste den Menschen Orientierung geben – und hat doch selbst keine

Von Antje Sirleschtov

Hoffentlich werden dereinst die Geschichtsschreiber im Konrad-Adenauer-Haus gerade diesem einen Wort größere Bedeutung bei der Richtungssuche der CDU zumessen. Wobei es ihnen in der historischen Betrachtung weniger darauf ankommen sollte, von wem, als vielmehr dass es in diesem Sommer 2006 ausgesprochen wurde.

„Lebenslüge“ heißt das Wort, das die CDU-Protagonisten in ihre Schützengräben treibt. Lüge, ein so anklagend dahergesagtes Wort verlangt unweigerlich ein Bekenntnis. Nach einer Wahrheit nämlich. Doch was bringt es, sich über Lüge oder Wahrheit zu zerfleischen? Nur ein kurzer Blick zurück in die Geschichte der SPD sollte der CDU Warnung genug sein: Im Richtungsstreit zwischen Gerhard Schröder und der Linken verloren am Ende beide. Solidarität – das plötzlich brüchig gewordene Dach aller Sozialdemokraten – trieb im vergangenen Herbst Oskar Lafontaines PDS in Mannschaftsstärke zurück in den Bundestag.

Eine CDU, jetzt im Fundamentalstreit zerrieben zwischen Friedrich Merz und dem Arbeitnehmerflügel unter Karl-Josef Laumann, wird unweigerlich das gleiche Schicksal ereilen. Denn: Freiheit – die kann Guido Westerwelle glaubwürdiger erklären als eine Kanzlerin der Union. Nur ihm, dem Liberalen, wird eine Auseinandersetzung der Union über die „Lebenslüge“ letztlich Nutzen bringen.

Ob die Gleichung „niedrigere Steuern bringen mehr Arbeitsplätze“ nun gilt oder nicht: Für die Zukunft der Volkspartei CDU erwachsen aus dieser Frage schon jetzt keine erlösenden Antworten mehr. Man kann das Ächzen und Krachen im Unionsgebälk förmlich spüren, wann immer neuerdings die Rede auf das Thema Kündigungsschutz kommt. Und spätestens im September, wenn es in der Regierung an die Senkung der Unternehmenssteuern geht, wird Jürgen Rüttgers, der Erfinder der „Lebenslüge“, erneut Farbe bekennen und seiner Kanzlerin das Stoppzeichen zeigen müssen.

Keine rosigen Aussichten für die CDU-Chefin, deren Verneigung vor Gerhard Schröders Agendapolitik wohl auch so viel heißen sollte wie: Die haben schon begriffen, dass Organisation und Finanzierung einer Gesellschaft umso pragmatischere Politik verlangt, je weiter Deutschland in einem offenen Europa und in der Weltwirtschaft aufgeht.

Gerade weil aber gute Sachpolitik so wenig mit heißen Glaubensbekenntnissen und so viel mit kühlem Pragmatismus zu tun hat, braucht es große Parteien, wie SPD und CDU, die den Menschen Orientierung geben. Fernab von Steuersätzen. Weit offen also steht das Tor für eine so traditionsreiche Partei wie die CDU. Alte und junge Menschen mit ihren Nöten, Familien in ihrer heute so vielfältigen Ausprägung, Zuwanderer, die Heimat und Chancen in Deutschland suchen: Sie alle wollen einen Platz in dieser Gesellschaft. Sie bewegt die Zukunft solcher Begriffe wie „soziale Marktwirtschaft“ und Tradition. Das sind die Begriffe der CDU. Und nicht die Frage, ob der Leipziger Reformparteitag eine Lebenslüge war.

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