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Meinung: Der 8. 8. 2008 – ein Glückstag für die Welt?

In einem Jahr beginnen in China die Olympischen Sommerspiele. Eindrücke aus einem Land, das schon jetzt im Fieber ist.

Im Jahr 1894 schickte das Internationale Olympische Komitee (IOC) einen Brief von Paris nach Peking. Man wollte China zu den ersten Spielen der Neuzeit einladen, die 1896 in Athen stattfinden sollten. Die Vorstellung, dass Chinas Untertanen in kurzen Leibchen auf einer Aschenbahn im fernen Europa um die Wette laufen, muss für die damaligen Herrscher am Qing-Kaiserhaus befremdlich gewesen sein. Das IOC erhielt auf seine Einladung denn auch nie eine Antwort.

Mehr als ein Jahrhundert später ist die Lage entgegengesetzt. In einem Jahr, am 8. 8. 2008 – ein Datum, das bei Chinesen als besonders glücklich gilt –, beginnen in Peking die XXIX. Olympischen Sommerspiele. Und die Aufregung könnte kaum größer sein. China ist im Olympiafieber. Seit Jahren wird in Peking gebaggert, geschaufelt und gemalt, um die Stadt für das Großereignis herzurichten. Straßenzüge und ganze Stadtviertel wurden abgerissen, um Platz für Schnellstraßen, Hochhaussiedlungen und Prachtbauten zu machen. Taxifahrer und Rentner büffeln Redewendungen auf Englisch, um die erwarteten 550 000 ausländischen Besucher angemessen zu begrüßen. Pekings Olympia wird ein Ereignis der Superlative.

Vielleicht sogar das größte Ereignis, das jemals von Menschen organisiert wurde. Vier Milliarden Zuschauer – fast zwei Drittel der Weltbevölkerung – werden die Sportwettkämpfe im Fernsehen mitverfolgen, so die Schätzung des IOC. Chinas KP-Mächtige lassen dafür nicht nur einige der spektakulärsten und teuersten Sportarenen der Welt bauen – Fokus der Aufmerksamkeit wird das von den Schweizern Herzog und de Meuron entworfene Nationalstadion, wegen seiner Stahlkonstruktion auch „Vogelnest“ genannt –, sondern sie krempeln auch die ganze Stadt um.

Vielleicht muss man in Peking leben, um das Ausmaß der Olympiavorbereitungen zu erfassen. In meinem Viertel, nicht weit vom Arbeiterstadion, wurde in den vergangenen zwei Jahren jeder Bürgersteig neu verlegt, und alle Straßen wurden neu geteert. Nachts sieht man die Arbeitertrupps, Wanderarbeiter in schmutzige Lumpen gehüllt und mit scheu blickenden Augen, die im grellen Neonlicht den Asphalt aufreißen – am nächsten Morgen ist die neue Straße fertig.

1,25 Millionen Menschen seien im Zuge der Stadtmodernisierung für Olympia umgesiedelt worden, berichten Bürgergruppen. Unzählige Geschäfte, Restaurants und kleine Garküchen wurden abgerissen, um Rasenflächen und Blumenbeete anzulegen. Peking hat für 2008 ein „grünes Olympia“ versprochen. Erstmals seit der Mao-Zeit bekommt die Hauptstadt neue U-Bahn-Linien, insgesamt 40 Kilometer neue Gleise. Die alten, stickigen Stadtbusse, mit denen sich die 15 Millionen Bewohner bisher fortbewegt hatten, wurden durch moderne Fahrzeuge mit Klimaanlagen ersetzt.

Schon jetzt steht fest: Peking 2008 werden die teuersten Sommerspiele, die es je gab. Die genaue Höhe der Baukosten gibt China nicht bekannt. Die Führer der Kommunistischen Partei (KP) haben Angst, dass der Gigantismus dem Volk, das zum großen Teil noch am Rande der Armut lebt, bitter aufstoßen könnte. Nach Angaben chinesischer Staatsmedien betragen allein die Kosten für die Olympiabauten und die Infrastruktur 283 Milliarden Yuan (28 Milliarden Euro). Die Wettkämpfe würden damit halb so viel wie alle Olympischen Spiele seit Montreal 1976 zusammen kosten, rechnet das „Wall Street Journal“ vor. Selbst wenn man davon ausgeht, dass manche Großbauten, etwa das neue von Norman Foster entworfene Flughafenterminal, sowieso hätten gebaut werden müssen, ist der Aufwand gigantisch. 21 000 Menschen nehmen allein an dem Fackellauf teil, wenn im kommenden Jahr das olympische Feuer über den halben Erdball nach Peking getragen wird. 100 000 Studenten und Schüler werden während der Spiele den ausländischen Besuchern und Sportlern als Helfer und Übersetzer zur Seite stehen.

Andere Länder mögen bei solchen Dimensionen an ihre Grenzen stoßen. Für Chinas KP-Mächtige, die von ihrem Regierungssitz im kaiserlichen Zhongnanhai ein Fünftel der Menschheit regieren, ist die Organisation jedoch kein Problem. Ein Jahr vor den Wettkämpfen sind die meisten der 31 Sportstätten nahezu fertig, erklären die Veranstalter. Anfangs waren die Chinesen so schnell mit dem Betongießen, dass das IOC sogar bat, etwas langsamer zu bauen.

In Peking ist man längst mit den Feinheiten der Olympiavorbereitungen beschäftigt. Anfang des Jahres bekamen ich und einige Millionen andere Pekinger Bürger eine SMS von der Stadtverwaltung. Ab sofort sei jeder 11. des Monats der „Tag des Anstellens“, hieß es in der Mitteilung. Seitdem müssen die Pekinger, für die das Schlangestehen bisher eine Art Nahkampfsport war, einmal im Monat das gesittete Anstellen üben. An vielen Bushaltestellen kontrollieren Wärter mit roten Armbinden, ob das auch ordnungsgemäß klappt.

Denn Chinas Mächtige wollen der Welt nicht nur eine neue Hauptstadt präsentieren, sondern am liebsten gleich ein neues Volk. Die Pekinger müssten „zivilisierter“ werden, heißt es in den Olympiakampagnen. Wer, wie bislang üblich, auf die Straße spuckt, muss Strafe zahlen. Taxifahrerinnen dürfen laut behördlicher Anweisung keine „großen, klobigen Ohrringe“ mehr tragen und ihr Haar nicht „zu grell“ färben lassen. Die „bang ye“, Pekings alte Männer, die im Sommer mit nacktem Oberkörper in den Gassen sitzen, sollen T-Shirts tragen. Und wer dachte, dass Asiaten immer höflich und zurückhaltend sind, sollte einmal zu einem Pekinger Fußballspiel gehen. Chinas Fans sind berüchtigt für ihre rüden Sprechgesänge, aus Tausenden Kehlen skandieren sie dann „sha bi“ – eine Verunglimpfung des weiblichen Schambereichs – und andere Obszönitäten. Den Olympiaplanern ist das so peinlich, dass sie in den Stadien riesige Lautsprecher installierten, die bei Bedarf die Schmährufe der Fans mit einem ohrenbetäubenden Geräusch übertönen.

Nichts will Peking dem Zufall überlassen, auch nicht das Wetter. Staatlich angestellte „Regenmacher“, die mit Raketen und Flugzeugen Chemikalien in die Wolken schießen, sollen dafür sorgen, dass während der Spiele der Himmel blau ist. Das größte Problem ist für die Organisatoren jedoch die Luftverschmutzung. Peking ist eine der dreckigsten Städte der Erde. Die Behörden geben regelmäßig Smogwarnungen heraus, die dazu auffordern, Kinder und Alte in den Häusern zu lassen. Um die Industrieabgase zu verringern, hat die Regierung mehrere Fabriken, darunter das Shougang-Stahlwerk mit 120 000 Arbeitern, aus dem Stadtgebiet in andere Provinzen verlegt. 33 Windkrafträder, die noch im Bau sind, sollen während der Spiele sauberen Strom liefern. Effektiver für die Umwelt dürfte jedoch sein, dass Peking eine Million Autofahrer dazu „überreden“ wird, während der Spiele ihr Auto in der Garage zu lassen. Peking, sonst ein Moloch mit 3,5 Millionen Autos und Staus rund um die Uhr, wird während der Olympiatage wieder so sein, wie es früher war. Eine Stadt der Radfahrer.

Die Olympischen Spiele sind für Peking mehr als nur ein Sportwettkampf. Sie sind auch mehr als ein „großes Fest der Völker“, wie die Funktionäre des IOC gerne formulieren. Für die KP-Führer sind die Spiele eine riesige Bühne, um der Welt ein neues China zu präsentieren. 30 000 Journalisten werden in Peking erwartet, dazu kommen Regierungschefs, Staatsoberhäupter, Prominente, Künstler, Wirtschaftslenker und andere Eliten. Peking will mit diesen Olympischen Spielen Chinas Image in der Welt verändern. Die hässlichen Bilder vom Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, als 1989 die Partei Panzer gegen die Studenten schickte, sollen endlich vergessen werden. Die dunklen Erinnerungen an Sozialismus und Kulturrevolution, als Hungersnöte und fanatische Kampagnen durch das Land tobten, sollen aus den Geschichtsbüchern verschwinden.

Auch das neue Bild von China als aggressiver Angreiferstaat, der mit Raubkopien und Dumpingpreisen die Weltmärkte erobert und dem Westen seine Energiequellen streitig macht, soll Olympia korrigieren. Peking wird deshalb alles daransetzen, dass die Spiele sauber werden und chinesische Sportler nicht durch Dopingskandale auffallen. Bislang hatte China seine Erfolge im internationalen Sport auch durch systematisches Doping erkauft – eine chinesische Schwimmerin wurde mit einer ganzen Thermoskanne voll Hormonen erwischt. Dieses System, in dem nur Rekorde zählen und die Gesundheit der Athleten geopfert wird, lässt sich so schnell nicht verändern. Möglicherweise wird China deshalb einige seiner Stars nicht in Peking antreten lassen, auch wenn das Medaillen kostet.

Das sportliche Abschneiden ist für Chinas Führung sowieso zweitrangig. In erster Linie interessiert man sich für die politische Wirkung dieser Spiele, für die Außenwirkung. Nichts fürchtet Peking daher so sehr wie einen politischen Boykott. Aus Angst vor der Tibet-Bewegung – im April inszenierten Tibet-Aktivisten bereits einen Protest auf dem Mount Everest – nahm Peking den Dialog mit dem Erzfeind Dalai-Lama wieder auf. Nachdem Hollywood-Größen wie Steven Spielberg und Mia Farrow öffentlich Kritik übten und die Wettkämpfe in Peking gar als „Genozid-Spiele“ bezeichneten, scheint China nun auch im Darfur-Konflikt einzulenken. China soll künftig als ein friedliches, verantwortliches und aufstrebendes Mitglied der Weltgemeinschaft gesehen werden, so wünschen es sich die KP-Mächtigen.

Das mag gelingen. Die ausländischen Sportler, Funktionäre und Journalisten, die nächstes Jahr nach Peking strömen, werden eine überraschend moderne Weltstadt erleben. Statt sozialistischer Plattenbauten, die früher das Stadtbild prägten, werden sie Hochhäuser und Prachtbauten von internationalen Stararchitekten sehen. Sie werden auf Chinesen treffen, die weltoffen und gebildet sind und, wenn man sich etwas näher kennt, erstaunlich kritisch auch über politische Themen reden. Nachts werden sie mit jungen Chinesen in den Discos im Sanlitun-Viertel tanzen, in superschicken Sushi-Bars speisen oder mit Künstlern in den 798-Fabriken, einer ehemaligen DDR-Waffenschmiede, über MaoPop-Art diskutieren.

Vielleicht wird Peking 2008 für die Welt ein Kulturschock, der viele Zerrbilder und Vorurteile zerstört. Chinas Gesellschaft ist heute offener, vielschichtiger und wohlhabender, als man im Westen glaubt. Und doch wird die Welt nur eine Fassade des Landes sehen. Von den Problemen seiner 1,3 Milliarden Menschen, von den gesellschaftlichen Spannungen und sozialen Ungerechtigkeiten wird man während der Spiele nichts mitbekommen.

Wer auf Pekings Straßen die vielen BMWs und Mercedes-Limousinen sieht, ahnt nicht, dass in Südchina Wanderarbeiter wochenlang ohne freien Tag im Akkord schuften und sich trotzdem keinen Arzt für ihre Kinder leisten können. Wer in der Hotellobby eine internationale Zeitung kauft oder bei Starbucks (Chinesisch: „Xing ba ke“) drahtlos im Internet surft, weiß nicht, dass in den vergangenen Monaten Dutzende Journalisten und junge Internetschreiber von der Staatssicherheit verfolgt und einige ins Gefängnis gesteckt wurden. Allein in Peking sind 263 000 Überwachungskameras installiert, die der Staatsschutz systematisch auswertet.

China besteht heute aus zwei parallelen Gesellschaften. Aus einer kleinen städtischen Elite, die gut ausgebildet und wohlhabend ist und in einer gewissen Rechtsstaatlichkeit lebt. Und einer Mehrheit von Bauern, Wanderarbeitern und ethnischen Minderheiten, die wie zu Maos Zeiten von einem Polizeistaat regiert werden. Als China 2001 den Zuschlag für die Olympischen Spiele bekam, wurde die Hoffnung laut, dass dieses Ereignis das Land freier und demokratischer machen würde. IOC-Präsident Jacques Rogge sprach von einer „Kraft für das Gute“, die auch auf Chinas Gesellschaft Einfluss haben werde. Das klingt gut, hat mit der Realität jedoch nichts zu tun. Die Olympischen Spiele werden weder der Startpunkt für eine neue Demokratiebewegung sein noch das Leben der Chinesen freier machen. Peking ist schon heute eine kosmopolitische Stadt, dazu braucht es kein internationales Großereignis.

Was Olympia 2008 aber leisten kann, ist eine Annäherung zwischen China und dem Westen. Bei der Geburt der olympischen Bewegung vor einem Jahrhundert wollte Peking noch möglichst wenig mit der Welt zu tun haben. Jetzt ist die Welt hier zu Gast.

Harald Maass

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