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Meinung: Der Hirte der Sündenböcke

Ob 11. September, Irakkrieg oder Wirbelsturm: Präsident Bush schiebt die Schuld gern auf andere

Der 11. September hat alles verändert: Diese Plattitüde ist fest im amerikanischen politischen Diskurs verwurzelt. In den vier Jahren, seitdem die Terrororganisation Al Qaida zugeschlagen hat, haben wir Amerikaner eine neue, härtere Weltanschauung angenommen. Wir haben Milliarden an Dollars ausgegeben, um eine neue Heimatschutzbehörde zu gründen und unsere Geheimdienste zu stärken. Wir haben mehrere Top-Terroristen erwischt und zwei Kriege gekämpft. Wir haben uns ständig versichert, dass wir wirklich die neue Gefahr kapiert haben – im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern in der Welt, vor allem in Europa.

Jetzt zeigt sich, dass all die Maßnahmen und Veränderungen nichts gebracht haben, um den Horror des Hurrikans „Katrina“ zu verhindern. Allerdings wäre es falsch zu behaupten, dass Terrorbekämpfung und Kriege unsere Bereitschaft geschwächt haben, mit Naturkatastrophen umzugehen. Vielmehr war die Reaktion auf „Katrina“ symptomatisch. Sie war nämlich ebenso verfehlt wie unsere Reaktion auf „Nine-Eleven“, einschließlich der Gründung der Heimatschutzbehörde (Department of Homeland Security, oder DHS). Nur sind die vielen Fehler an den meisten Amerikanern spurlos vorübergegangen: Wichtige Positionen wurden von Parteikumpeln statt erfahrenen Experten übernommen. Es wurde nicht geklärt, wer welche Vollmachten in der Washingtoner Bürokratie hatte. Und in der Reaktion des Weißen Hauses auf die harten Fragen, die sich nach dem 11. September und rund um den Irakkrieg stellten, zeigte sich derselbe Selbstschutzreflex wie jetzt, nach „Katrina“: Die anderen sind schuld, und außerdem wurden wir überrascht. Die letzten armseligen Reste von Verantwortlichkeit in Washington waren bereits gestorben, bevor der Hurrikan die Küste erreichte.

Beim 11. September und dem Irakkrieg waren „die anderen“ die US-Geheimdienste. Sie hatten, laut Weißem Haus, versagt. Zwei entsprechende Untersuchungsausschüsse bestätigten das. Nur hört da die Geschichte nicht auf. Die unzugängliche Kommunikation zwischen den verschiedenen Geheimdienstagenturen, vor allem von CIA und FBI, hatte vor dem 11. September das notwendige „Information Sharing“ blockiert, das möglicherweise die Attentatspläne rechtzeitig hätte aufdecken können. Im vergangenen Jahr veröffentlichte ein unabhängiger Ausschuss von fünf Republikanern und fünf Demokraten einen Bericht, der sofort ein Kassenschlager wurde. Darin werden die vielen Fehler, die vor dem 11. September begangen wurden, vorsichtig umrissen. Allein die neutrale Ausdrucksweise schützte das Weiße Haus vor harten Konsequenzen. Klar jedoch ist: Im Frühjahr und Sommer 2001 fehlte der Bush-Regierung der Wille, das Ausmaß der Bedrohung durch Al Qaida zu begreifen.

Auch nach dem Irakkrieg, als keine Massenvernichtungswaffen gefunden worden waren, gelang es dem Weißen Haus, sich mit Glück aus der Affäre zu stehlen. Demokraten im Abgeordnetenhaus und im Senat forderten sofort lautstark einen neuen Untersuchungsausschuss. Doch die Antwort der regierenden Republikaner war, einerseits Bush zu verteidigen, andererseits der Opposition vorzuwerfen, aus dem ABC-Waffen-Debakel lediglich politische Munition ziehen zu wollen. Kaum jemand bemerkte die Ironie: Der Esel schimpfte den anderen ein Langohr. Der Geheimdienstausschuss im Abgeordnetenhaus, unter Führung von Bush- Loyalist Porter Goss, der mittlerweile CIA-Chef wurde, unterdrückte alle demokratischen Bemühungen um eine Untersuchung. Im Senat hatten die Demokraten zwar etwas mehr Erfolg, aber der entsprechende Ausschuss befasste sich nur mit sich, nur mit dem Versagen der Geheimdienste, nicht aber mit der weitaus heikleren Frage, ob und wie das Weiße Haus absichtlich Informationen von jenen Agenturen missbrauchte. Erneut wurden die Geheimdienste zu Sündenböcken: Wir wollten in den Krieg ziehen, denn die CIA verleitete uns dazu. Eine groteske Verdrehung der Tatsachen.

In diesem Fall war die Strategie noch zynischer als nach dem 11. September. Denn trotz des Debakels um die Massenvernichtungswaffen hatte die CIA vor dem Irakkrieg viele Entwicklungen richtig eingeschätzt. Früh zweifelte der Auslandsgeheimdienst daran, dass Saddam Hussein in die Terroranschläge verwickelt war und enge Beziehungen zu Al Qaida unterhielt. Die Bundesenergiebehörde, in der eine Reihe von Nuklearexperten arbeiten, wies die Behauptung des Weißen Hauses zurück, Saddam Hussein habe Aluminiumröhren für den Bau von Nuklearwaffen kaufen wollen. Die Luftwaffe war skeptisch, ob der Irak über ferngesteuerte Flugzeuge verfügt, die biologische Waffen verstreuen können. Doch angeblich wurden all diese vertraulichen Informationen dem Präsidenten nie zugetragen. Und wer kann bestreiten, dass die Strategie verfing? Noch am Wahltag 2004 glaubte eine Mehrheit der Republikaner, dass Saddam hinter den Anschlägen vom 11. September gestanden hatte und es im Irak Massenvernichtungswaffen gab, als die US-Truppen einmarschierten.

Während all dieser Zeit flossen Milliarden von Dollar in die DHS, diesen neuen bürokratischen Moloch, der aus mehreren Agenturen entstand. Dessen erster Chef, Tom Ridge, wurde dafür bekannt, dass er die oft verspottete multifarbige „Risiko Tabelle“ einführte. Bundesstaaten und Gemeinden bekamen Informationen von den Geheimdiensten, die jedoch oft vage oder zusammenhanglos waren. Die „first responders“ machten Übungen, um sich für einen Terrorangriff mit Chemie- oder Biowaffen vorzubereiten. Nur: Wichtige und grundlegende Fragen wurden nie gestellt. Wer ist für was zuständig? Wie bringt man Tausende von Menschen in Sicherheit? Wie werden Wasser, Lebensmittel und Medizin zu den Betroffenen geliefert? Welche Truppen sollen benutzt werden, die Nationalgarde oder andere Einheiten? Bei „Katrina“ rächten sich nun diese Schlampereien. Die Fehler waren nicht nur katastrophal, sondern tödlich. In ihrer ersten richtigen Bewährungsprobe versagte die DHS kläglich.

Doch prompt wurde ein neuer Sündenbock erfunden. Nicht die Geheimdienste waren diesmal schuld, sondern Kommunal- und Landespolitiker vor Ort. Das jedenfalls wurde vom Weißen Haus angedeutet. Und es kann sein, dass New Orleans Bürgermeister Ray Nagin oder die Gouverneurin von Louisiana, Kathleen Blanco, einiges hätten besser machen können. Aber der Notfallplan für „Katrina“ war in erster Linie eine Bundesangelegenheit. Kein anderer als der Präsident hatte den Bundesstaat Louisiana am 27. August zum Notstandsgebiet erklärt. Das waren zwei Tage, bevor „Katrina“ die Küste traf, und drei Tage, bevor die Deiche von Lake Pontchartrain brachen und das Wasser die Stadt überflutete. Dadurch wurde die Bundesregierung automatisch verpflichtet, alle notwendigen Ressourcen und Arbeitskräfte aufzubieten, über die nur sie allein verfügt.

Die US-Medien haben bereits mehrere Fälle aufgedeckt, die die Unfähigkeit der DHS und der Bundeskatastrophenschutzbehörde (Fema, Federal Emergency Management Agency) belegen. Demnach hat die Hurrikanzentrale 32 Stunden, bevor Katrina die Stadt traf, die Fema gewarnt: Lake Pontchartrain würde wahrscheinlich überfluten. Daraufhin forderte die Fema jedoch von der DHS – zu der sie seit 2003 gehört – nicht etwa die Hilfe von Militärs zur Evakuierung der Stadt an, was notwendig gewesen wäre. Außerdem hatte die DHS keine Einheiten der Bundesgesundheitsbehörde vor Ort. Die Fema wiederum lehnte Hilfsangebote der Stadt Chicago, von Wal-Mart und der „American Ambulance Association“ ab. Und schließlich: Die „USS Bataan“, ein Schiff mit Krankenhaus und frischem Wasser, fuhr die Küste auf und ab und wartete auf Einsatzbefehle der Fema, die nie kamen.

So ging es weiter: Als „Katrina“ am 29. August die Küste erreichte, wartete der Chef von Fema, Michael Brown, fünf Stunden lang, bevor er von der DHS tausend Mitarbeiter anforderte – und die hatten dann zwei Tage Zeit, um nach Louisiana zu kommen. Erst am 30. August fragte das DHS bei Fluggesellschaften nach, ob sie mit der Evakurierung helfen könnten. Noch einen Tag später konnte Brown die Frage eines Senators nicht beantworten, ob oder wann Busse in die Stadt fahren würden. Am 1. September sagte er auf CNN, dass er nichts von einer Krise im Superdome wisse.

Damit war der Tiefpunkt des Versagens erreicht. Nun übernahm DHS-Chef Michael Chertoff die leitende Rolle, aber nicht unerwartet, fingen die Ausreden und Umdeutungsmanöver wieder an. Unbenannte „hochrangige Bundesfunktionäre“ erzählten Reportern, dass Gouverneurin Blanco mehrere Tage nach „Katrina“ gezögert hatte, bevor sie Bush darum bat, den Notstand auszurufen. Falsch – das hat sie schon am 26. August gemacht. Dann deutete Chertoff an, dass das Hochwasser nicht zu erwarten gewesen sei. Auch falsch. Abgesehen von der genauen Warnung der Hurrikanzentrale hatten Wissenschaftler seit Jahren vor den verheerenden Folgen eines großen Hurrikans gewarnt. Andere Forscher berechneten, dass viele Einwohner, vor allem Alte, Behinderte und Arme, aus der Stadt nicht würden fliehen können. Der Horror des 11. Septembers kam unerwartet. Die Katastrophe von „Katrina“ indes war nur eine Frage der Zeit. Nicht über das Ob wurde gestritten, nur über das Wann.

Nun werden Vorwürfe laut, die Fema sei in den letzten Jahren aus Mangel an Geld und Personal entmachtet worden. Vor 2003, als sie noch nicht mit der DHS verschmolzen, sondern eine unabhängige Behörde war, sei angeblich vieles besser gelaufen. Andere sind der Meinung, dass die enormen Kosten des Irak- und Afghanistankrieges zu viele Ressourcen umgeleitet haben. Ob das stimmt, ist schwer zu sagen – der Staat kann auf viele Weise Geld verschwenden. Und ob die Fema nun 500 Millionen oder 600 Millionen Dollar zur Verfügung hat, ob sie zur DHS gehört oder nicht: All das ist nebensächlich im Vergleich zur Notwendigkeit, einen Chef zu haben, der klug und entschlussfreudig ist und der sich mit der politischen Bürokratie auskennt. Stattdessen wurde die Fema von „Brownie“ geführt, dem Kumpel eines Zimmergenossen von Bush aus Universitätszeiten. Der soll zuvor der Chef der „International Arabian Horse Association“ gewesen sein, wo man ihn angeblich feuerte. Erfahrungen im Krisenmanagement hatte er jedenfalls nicht. Die Entscheidung am Freitag, ihn der Verantwortung für Katrina-Fürsorge zu entheben, war zu wenig und zu spät.

Vor vier Jahren ereignete sich die Tragödie des 11. September. Damals gewann die Bush-Regierung das Vertrauen und die Unterstützung vieler Amerikaner. Doch die nationale Einheit ist spätestens seit dem Irakkrieg vorbei, zumindest für wenigstens die Hälfte der US-Bürger. Aus Solidarität ist Enttäuschung geworden, später dann Wut. Doch diese Wut ist ohnmächtig. Bislang hat es das Weiße Haus immer hervorragend verstanden, seine Macht zu festigen. Der Kongress ist fest in der Hand der Republikaner. Der freundliche Oberste Gerichtshof wird demnächst noch regierungsfreundlicher. Eine Opposition, die den Namen verdient, gibt es nicht. Auch mit den Folgen von „Katrina“ wird sich deshalb kein unparteiischer Untersuchungsausschuss im Kongress befassen, allenfalls einer, den die Republikaner kontrollieren. Und eine solide Mehrheit der republikanischen Wähler hält weiter fest zu Bush – auch nach „Katrina“. Schon wieder hat das Weiße Haus ein kleines Wunder vollbracht: die volle Macht zu behalten, ohne auch verantwortlich zu sein.

Helen Fessenden

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