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Meinung: Der Höhenkoller nimmt kein Ende

Pascale Hugues, Le Point

Ich hab’s ja gesagt: Der Lokalpatriotismus nimmt zu, je höher man klettert. Und besonders hartgesotten sind jene Kiezpatrioten, die nur ein paar Meter über dem Meeresspiegel leben. Mit Stadvierteln ist es wie mit Etagenbetten in Kinderzimmern: Alle wollen auf der oberen Matratze schlafen, und nur in höher gelegenen Stadtvierteln wird auch ein Gefühl von gesellschaftlicher Überlegenheit kultiviert.

In meiner Glosse vor zwei Wochen habe ich mich mit den Berliner Bergen beschäftigt – und damit eine Flut von Gegendarstellungen ausgelöst. Östlich des Brandenburger Tors wirft man mir vor, die 115 Meter hohen Müggelberge vergessen zu haben. Ein höflicher, aber gekränkter älterer Herr rief mich aus Wedding an, um die verletzte Ehre der Humboldthöhe zu verteidigen (85 Meter). Von Prenzlauer Berg (Oderbruchkippe, 91 Meter) bis Zehlendorf (Böttcherberg, 66 Meter), von Marzahn (Ahrensfelder Berge, 112 Meter) bis Rudow (Dörferblick, 86 Meter) zählen die Berliner die Zentimeter ihrer Kiez-Himalayas – größer, schöner, majestätischer als die ihrer Nachbarn.

Irgendwann hatte ich genug von diesen Rivalitäten unter Zwergen und bekam Lust auf einen echten Berg. Und deshalb gleite ich nun mit baumelnden Beinen die Ausläufer der Marmolada entlang: ein wahrer Gipfel, der den Namen verdient! 3342 Meter! Windumtost, dräuend, unüberwindlich, aprikosenrot bei Sonnenuntergang, eisig blau in der Morgendämmerung.

„Schön, wa?“, stellt nüchtern mein Nachbar im Skisessel fest. Er hat einen roten Schnurrbart und kommt aus Pankow, einem der wenigen Viertel, die nicht die schwindelnden Höhen ihrer lokalen Berge verteidigt haben. Ich stimme ihm zu. Damit endet unser Gespräch. Wir wissen, dass weder die Müggelberge noch der Teufelsberg dem Vergleich mit diesem alpinen Olymp standhalten würden. Unser Höhenrausch löscht die Erinnerung an die Stadt aus, Berlin ist fern dort unten im Tal.

Später spielt sich auf der Terrasse unserer Skihütte ein Kampf der Kulturen ab, ein Duell des Schreckens: deutscher Schlager gegen italienischen Canzone. Der Lautsprecher über der Bar jodelt hart an der Grenze zur Dissonanz: „Die Berge in Tirol, bei uns sind sie so schön, hörst du nicht den Ruf der Heimat?“ Skistiefel stampfen den Takt. Jagertee und Bommelmützen. Piz Buin und Ski Heil. Der schlimmste Effekt der demographischen Krise in Deutschland wird die flächendeckende Ausbreitung der Volksmusik sein, wenn die über 60-Jährigen erst mal das gesellschaftliche Ruder übernommen haben. Ein verlorenes Schlagerparadies wird dann zum Leben erweckt, voller Kuhglocken, Heuduft und blonder Zöpfe. Hänschen und Gretel werden Adam und Eva ersetzen. Hier an der Bar ist es schon fast so weit – wäre da nicht ein genervter italienischer Kellner, der seine eigene patriotische Front eröffnet hat. Mit einem kleinen rosa Transistorradio verbreitet er das Gegengift zur musikalischen Übermacht des Germanischen: Ein reifer Canzone-Interpret singt knödelnd von unglücklicher Liebe. „Tutto bene, wenn ich einen ganzen Tag an deiner Seite verbringen darf.“ Es ist wie ein musikalischer Sonnenuntergang, der die unschuldigen Gänseblümchen der deutschen Volksmusik verdunkelt. Keine Purzelbäume mehr im frisch geschnittenen Gras, keine Liebschaften mehr unter dem wachsamen Blick von Kühen. Stattdessen Einsamkeit, Sehnsucht, Täuschung – das komplette Register amouröser Verwirrung. Selbst die Marmolada sieht plötzlich traurig aus.

„Wenn man das hört, verliebt man sich sofort“, warnte mich eines Tages eine Verkäuferin im „Upim“, was in Florenz so etwas ist wie das Woolworth in der Potsdamer Straße. Ihre Bluse war blau, ihr Blick voller Feuer, und ihr Herz meilenweit entfernt von den Warenhausregalen voller Strumpfhosen und Socken. „Verlieben? In wen denn?“, fragte ich zurück. Und spürte sofort, dass mein grausam kartesischer Geist sie ärgerte. „Ist doch egal, es geht um die Schönheit des Gefühls“, antwortete sie trocken.

Auf der Skiterrasse hat sich das rosa Transistorradio geschlagen wie ein Löwe, lange hat es den Attacken der Jodler widerstanden. „Verdammt, ich lieb dich!“, tönt es da plötzlich aus dem Lautsprecher über der Bar. Das Radio verstummt, schockiert über so viel Grobheit. Auf germanischen Berghängen sind Liebeserklärungen eben simpler als an den Stränden der Adria. Selbst die Marmolada errötet. Wunderschön – wa?

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