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Meinung: Der Kanal wird schmaler

Die langsame und schwierige Annäherung der Briten an Europa Von Ralf Lord Dahrendorf

Europa wird größer. Was kann die bald 450 Millionen Europäer verbinden? Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Meinungsverschiedenheiten? In einer gemeinsamen Serie von Tagesspiegel und DeutschlandRadio Berlin suchen prominente Europäer Identität und Perspektiven des künftigen Europa. Zu hören sind die Beiträge sonntags um 12 Uhr 10 im DeutschlandRadio Berlin (UKW 89,6).

Noch immer sagen auch proeuropäische Briten, wenn sie in die Normandie oder die Toskana fahren, ganz unwillkürlich: Wir fahren nach Europa. Trotz billiger Flugtarife, ja trotz des Tunnels bleibt Europa der andere, ferne Kontinent. Und traditionellere Leute auf der Insel nennen den Atlantik den „pond“, den Teich, als gehörte er zu ein und demselben Dorf, das von Briten und Amerikanern bewohnt wird. Daher klingt es für viele einfach nicht plausibel, wenn Premierminister Blair immer wieder betont, er wolle Britannien „im Herzen Europas“ sehen.

Andererseits ist es mit dem Herzen Europas eine eigene Sache geworden, seit die Erweiterung um zehn vornehmlich osteuropäische Länder vor der Tür steht. Der „Brief der acht“ zum Irakkrieg hat die neue Kraft der Peripherie Europas sichtbar gemacht: Britannien, Spanien, Polen und mehr als zehn andere, kleinere gegen das deutschfranzösische „Kerneuropa“, das dabei fast doch ein wenig „alt“ aussah. Europa verändert sich also, und es könnte sein, dass diese Entwicklung die Insel wenn nicht ins Herz so doch in eine Mehrheitsposition rückt.

Indes bleiben spezifische Unterschiede. In internationaler Perspektive sind das vor allem zwei. So oft auch gescherzt wird, England und Amerika seien „zwei Länder, die eine gemeinsame Sprache trennt“, so wahr bleibt doch, dass die britisch-amerikanische Beziehung eine ungezwungenere Nähe aufweist, als sie andere Länder zu Amerika haben. Die Irak-Koalition war kein Zufall und auch keine nur rationale Allianz. Sodann ist das Commonwealth nicht zu unterschätzen. Auch Frankreich hat die Reste seines Weltreichs, vor allem in Afrika; aber das weltweite Commonwealth, das Südafrika und Indien, Australien und viele westindische Inseln einschließt, ist eine stärkere Kraft.

Was die inneren Verhältnisse betrifft, so unterscheidet vor allem der Gedanke der Souveränität die Briten von ihren Nachbarn auf dem Kontinent. Für diese ist Souveränität ein nationaler Begriff; souverän sind die Staaten. Für Großbritannien hingegen ist Souveränität ein demokratischer Begriff; es ist die Souveränität des Parlaments, die es zu verteidigen gilt. Sie ist auch, im Unterschied zu nationaler Souveränität, nicht teilbar; sie kann nicht gemeinsam mit anderen ausgeübt werden. Hier liegt der Kern für die außerordentliche Empfindlichkeit vieler Briten gegenüber dem Souveränitätsverlust durch ein supranationales Europa und für die Insistenz, dass der Verfassungsvertrag keine eigene Staatlichkeit der Europäischen Union begründen darf.

Auch der Euro gehört in diesen Zusammenhang. Die – wenn auch indirekte – parlamentarische Kontrolle der Währung ist Teil der Souveränität. Sie „nach Frankfurt“ zu geben, ist für viele der Abschied von tausend und mehr Jahren eigenständiger Rechts- und Staatsgeschichte.

Nun sind dies alles keine ein für alle Mal gegebenen Strukturen. In der Ära Thatcher wie auch jetzt in der Ära Blair hat sich Großbritannien fundamental verändert. Die alte Spaltung in Aristokratie und Arbeiterklasse ist auch auf der Insel einer Art nivellierter Mittelstandsgesellschaft gewichen. Die „devolution“, also die Schaffung von Parlamenten für Schottland, Wales und Nordirland, hat zu einem fast kontinentalen Föderalismus geführt. Gerade hat Herr Blair die Abschaffung des 1400 Jahre alten Amtes des Lordkanzlers, der oberster Richter und Justizminister zugleich ist, angekündigt; damit würde die Gewaltenteilung von Exekutive und Judikative verstärkt. Schritt für Schritt wird also der Ärmelkanal schmaler und der atlantische „Teich“ breiter. Aber noch bleibt für viele auf der Insel Europa die andere, sympathische und doch fremde Welt, deren Uhren mindestens eine Stunde vorgehen.

Lord Dahrendorf ist Soziologe und Mitglied des britischen Oberhauses. Er war Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Rektor der London School of Economics und Warden am St. Antony’s College in Oxford. Foto: Rückeis

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