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Meinung: Der Kolumbus der Seele

Wo „Es“ ist, soll „Ich“ werden: Vor 150 Jahren am 6. Mai wurde Sigmund Freud geboren

Von Caroline Fetscher

Auf einer Urlaubsfahrt durch Istrien, an Ostern 1898, besuchte Sigmund Freud die Höhlen des Karsts bei Divaca, im heutigen Slowenien. Seinem Berliner Freund Wilhelm Fließ schreibt der erkenntnishungrige, 32-jährige Neurologe und Privatdozent aus Wien in einem Brief vom 14. April 1898 von der dortigen „Rudolfshöhle“. Freud war fasziniert. Er fand sie „angefüllt mit allerlei seltsamen Tropfsteinbildungen, Riesenschachtelhalmen, Baumkuchen, Stoßzähnen von unten, Vorhängen, Maiskolben, faltenschweren Zelten, Schinken und Geflügel von oben herabhängend“. Ihm präsentierte sich eine reiche Unterwelt, ein unterirdisches System aus Verweisen und Symbolen, ähnlich dem Unbewussten selbst. „Das Merkwürdigste“, freute sich der Reisende dann, „war unser Führer, im schweren Alkoholdusel, aber ganz sicher und humoristisch belebt.“ Der Mann „war der Entdecker der Höhle selbst, ein verkommenes Genie“, und erquickte Freud mit ebenso dunklen wie heiteren Einsichten in das Wesen seiner Seele. „Als er äußerte, daß er schon in 36 Löchern im Karst gewesen, erkannte ich ihn als Neurotiker und sein Konquistadorentum als erotisches Äquivalent.“ Über sein Erkunden der Höhle gestand dieses Genie offenherzig, es sei für ihn damit „wie bei einer Jungfrau, je weiter man kommt, desto schöner ist es“. Freud bedankte sich bei dem „größten Lumpen von Divaca“ mit einem Riesentrinkgeld, das jener wohl wortgetreu umgesetzt haben wird.

Was immer wir Erdenbewohner denken, sprechen, schreiben, träumen, fantasieren oder wünschen, lässt sich seit Freud neu lesen. In den Mythen, in der Kunst, in der Alltagssprache, bei der Wahl eines Partners oder Berufs arbeiten, so erklärt er, die Subtexte der Triebe mit: Wünsche und deren Zensoren. Beides dringt uns nicht ins Bewusstsein. Mit der Entdeckung des Unbewussten als des inneren Kontinentes der Individuen eröffnete Freud, erklärt der New Yorker Soziologe Eli Zaretsky in seiner eben auf Deutsch erschienenen, exzellenten Studie zur Geschichte der Psychoanalyse, „die vitalste Theorie, die uns das 20. Jahrhundert hinterlassen hat“, dauerhafter und einflussreicher, als die marxistische Ideologie des Kommunismus. Freud selber war sich der umwälzenden Dynamik seiner Entdeckungen sicher und er behielt Recht. Seine Analyse der Psyche initiierte mehr als nur ein Heilverfahren, sie schuf eine ganze Begriffswelt. Historiker sprechen von „Verdrängung“ oder „Vergangenheitsbewältigung“, Massenmedien verwenden Begriffe wie „Projektion“, „Größenwahn“. Verwechselt Joschka Fischer eine „Hausbesetzung“ mit einer „Hausbesprechung“, bricht Heiterkeit aus ob des „Freud’schen Versprechers“.

Drei massive narzisstische Kränkungen habe die Menschheit erfahren, erklärte Sigmund Freud. Die erste mit Nikolaus Kopernikus, der Im Mittelalter darlegte, dass unser Planet um die Sonne kreist. Der entsetzte Aufschrei lautete: „Wir sind nicht das Zentrum des Universums!“ Als Charles Darwin 1859 nachwies, dass das Tier, der Affe gar, unser direkter Vorfahr ist, empörte sich die Gesellschaft: „Wir sind nicht die Krone der göttlichen Schöpfung!?“ Die dritte Erschütterung aber bescherte uns Freuds Entdeckung des Unbewussten, eines von triebhaften, irrationalen, großenteils infantilen, sexuellen Wünschen und Ängsten besiedelten Seelenkontinentes. „Mit dieser Hervorhebung des Unbewussten im Seelenleben“, warnte Freud seine Studenten in Wien 1917, „haben wir aber die bösesten Geister der Kritik gegen die Psychoanalyse aufgerufen. Wundern Sie sich darüber nicht.“ Er hielt dies für die „empfindlichste Kränkung der menschlichen Größensucht“, da sie „dem Ich nachweisen will, dass es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewusst in seinem Seelenleben vorgeht“.

Gleichwohl, aus den bad news folgten auch good news: Jede historische Ent-Täuschung bot ja die Befreiung von einer Täuschung. Es lösten sich Dogmen und Denkraster, Zweifel an Gott und Autoritäten waren möglich – schließlich das Erstürmen der Bastille. Freuds Revolution attackierte ein anderes Bauwerk: Den vermeintlich stabilen Palast eines vermeintlich autonomen Ich. Während sich der Sohn eines jüdischen Wollhändlers in der Donaumonarchie der Jahrhundertwende auf seine Suche nach der Struktur der Psyche machte, zerlegte er den „psychischen Apparat“ in drei Teile. Darin obliegt dem „Ich“ die konfliktvolle Aufgabe, Mittler zu sein zwischen dem „Es“ – den Trieben, dem Lustprinzip – und der Außenwelt, repräsentiert durch das „Über-Ich“, das Gewissen, so etwas wie die Polizei der Psyche. Für die Erforschung der hohen See der Seele hatte sich der Kolumbus Freud zu seinem Forschungsschiff ein biederes Wiener Salonmöbel erkoren: Die Couch. Sie stand in seiner Praxis in der Berggasse 19, wo er von 1891 bis zur vom Faschismus erzwungenen Emigration nach London, am 5. Juni 1938 praktizierte. Auf dem schlichten Sofa, bedeckt mit einem farbigen Perserteppich, ließ Freud seine „nervösen“, „perversen“, „hysterischen“ Patienten liegen, um ihr unzensiertes Sprechen zu hören, „in freier Assoziation“. Was auf der Couch als Chaos zutage trat, verwandelte sich für den Forscher in den kostbaren Rohstoff von Erkenntnisproduktion. Insbesondere bewegten Freud die Träume.

Seine um 1900 veröffentlichte „Traumdeutung“ geriet zum skandalösen Reisebericht aus dem Unbewussten. Unsere Träume ergeben Sinn, erklärte er, sie erzählen, meist verschlüsselt, vom „Triebschicksal“ der Individuen. Schöpferisch ist das Unbewusste, das uns ohne Ausnahme zu allnächtlichen Autoren aussagekräftiger, oft surrealer, witziger oder erschreckender Narrative macht, zu Regisseuren eigener „Filme“, die das Gros ihrer Motive – den Dramen der kindlichen Sexualität entlehnen. Jedes Menschenkind, erklärte Freud 1905 dann in seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, empfindet von Beginn an Lust am Saugen und Tasten, an den Ausscheidungsvorgängen, am Berühren seines Genitales. Im „polymorph perversen“ Kind entwickeln sich die Triebe in Phasen, früh macht das Kind seine ersten Liebesobjekte ausfindig: Der Knabe begehrt die Mutter, das Mädchen den Vater. Freud entdeckte den Ödipus-Mythos bei Träumenden wie Wachen. „Ein begabtes und lebhaftes Mädchen von vier Jahren, an der dies Stück Kinderpsychologie besonders durchsichtig ist (...) äußert direkt: ,Jetzt kann das Muatterl einmal fortgehen, dann muss das Vaterl mich heiraten, und ich will seine Frau sein.’“ Werden Kinder durch Schreckensfabeln, sexuelle Gewalt oder Strafen schwer traumatisiert, führt dies früher oder später zur seelischen Erkrankung. „Die Psychoneurosen“, postulierte Freud, „sind entstellte Ersatzbefriedigungen von Trieben, die man vor sich selber und den anderen verleugnen muss“. In der „Sprechkur“ sollen die Vorstellungen des Unbewussten bewusst werden, um Auswege aus dem Leiden zu bahnen. Wo „Es“ war, solle „Ich“ werden, postulierte Freud, der Mythos soll sich zum Logos wandeln.

Freuds Erkenntnisinteresse schien unersättlich. Ihn beschäftigten die Mythen der Antike, die Kunst der Renaissance, der Monotheismus („Der Mann Moses“), die Ethnographie („Totem und Tabu“) und die Dramen wie Romane seiner Zeitgenossen. Bald entdeckten auch diese ihn. Begeistert lasen ihn Max Ernst und André Gide, Thomas Mann und Kurt Tucholsky, in dessen Arbeitszimmer ein Freud-Porträt hing. Kaum ein einflussreiches Kulturprodukt des 20. Jahrhunderts, kein „Zauberberg“, kein Film von Hitchcock, weder der Dadaismus noch der Surrealismus wäre denkbar, ohne Freuds Einsichten in das Andere in uns. Und das Unbewusste ging um die Welt: Psychoanalytische Vereinigungen wurden in Wien und Berlin gegründet, in London, Budapest, Zürich, New York, im Bombay des kolonialen Indien und in Buenos Aires, heute die Stadt mit den meisten praktizierenden Psychoanalytikern der Welt, wo man sogar die Hingabe beim Tangotanzen psychoanalytisch erklären kann. 1910 wurde die Internationale Psychoanalytische Vereinigung gegründet, nach dem Ersten Weltkrieg, 1918, im Jahr, in dem Freud die berühmte Fallgeschichte des russischen „Wolfsmannes“ veröffentlichte, befasste sich in Budapest erstmals ein Kongress mit den Traumata von Kriegsteilnehmern.

Neben der psychoanalytischen Aufklärung intellektueller Eliten wuchs rapide der Wahn des Antisemitismus. „Unausdenkbar“, schrieb der Analytiker Alexander Mitscherlich einmal, „was den Menschen in den zwei Jahrzehnten zwischen 1930 und 1950 erspart geblieben wäre, wenn Freuds Lehren die gleiche Aufmerksamkeit wie die Albert Einsteins gefunden hätten.“ Widerstand gegen die Psychoanalyse regte sich auch in der Sowjetunion, wo Stalin die „bourgeoise“ Methode 1936 verbieten ließ. In Hitlerdeutschland brannten 1933 erst Freuds Schriften, 1938 verbot das Regime das „jüdische“ Verfahren dann ganz. Freud habe „jüdische Kategorien“ auf „christliche Germanen und Slawen“ angewandt, erklärte 1934 der „dissidente“ Analytiker Carl Gustav Jung. Mit einer Welle der Emigration verlagerten sich die Zentren der Psychoanalyse nach New York und London, die Lehre wanderte bis nach Shanghai, Mexiko, Südafrika. Viele Psychoanalytiker aber starben auch in Theresienstadt oder Auschwitz.

Psychoanalyse verträgt sich nicht mit Diktaturen. Auf ihr Denkmodell, das Individuum und Autonomie betont, reagieren Tyrannen allergisch – und kaum einen klareren Beleg könnte es geben für das „gefährliche“ emanzipatorische Potenzial der Freud’schen Theorie. Erst allmählich kehrte die Psychoanalyse nach dem Zweiten Weltkrieg auf den europäischen Kontinent zurück, seit 1967 erkennen die Krankenkassen in Deutschland das Heilverfahren an. Im selben Jahr erschien die berühmte Studie des deutschen Analytikerpaares Margarete und Alexander Mitscherlich „Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens“, das uns Deutschen vorhielt, bei äußerer Scheinanpassung an die Demokratie das „Ich-Ideal“ des Führers nicht verabschieden zu wollen. Ganze Gesellschaften oder Religionsgemeinschaften „auf die Couch zu legen“ unternehmen auch Analytiker wie der Inder Sudhir Kakar („Die Gewalt der Frommen“) oder der Amerikaner Vamik Volkan („Das Versagen der Diplomatie“). Selbst mit den Perversionen des Islamismus befassen sich heute eine Reihe von Analytikern, sogar in der arabischen Welt.

Autoritären und religiösen Systemen ist das offen Dialogische, das freie, autonome Sprechen – also der Kern der Psychoanalyse wie der modernen Literatur – zuwider. In ihrem Buch „Lolita lesen in Teheran“ beschreibt die Professorin Azar Nafisi, wie sie mit Studentinnen im Iran heimlich Lektüreseminare zu Romanen abhielt. Bedrohlich für jede monolithische Autorität ist alles, was multiperspektivisch vorgeht.

Doch Widerstand gegen die Psychoanalyse regt sich indes seit Jahren an einer anderen Front. In ihrem Neo-Positivismus hoffen Neurowissenschaftler, sie weitgehend für obsolet erklären zu können, Träume für Neuronengewitter und Chemie zum Erlöser psychisch Leidender.

Schließlich trifft Freud auf die Kritik vieler Feministinnen, da er „die Frau im Zeichen des Mangels definiert“ – ihr fehlt der Penis, den sie am Mann beneide. Zwar sah Freud die Frau durchaus als defizitär, „triebhafter“, mit weniger Kapazität, ein Über-Ich zu entwickeln, bedenke man aber die „total verlogene Sexualmoral“ seiner Zeit, so verteidigt ihn heute Margarete Mitscherlich-Nielsen, dann sei Freud gleichwohl mit enormer Weitsicht ausgestattet gewesen. Dutzende von Theoretikern haben im Lauf der Zeit Freuds Ansichten zur Sexualität, zu den Geschlechtern und zum psychischen Apparat modifiziert oder erweitert, von Michael Balint über Melanie Klein und Donald Winnicot sowie die neuere französische Schule von Jacques Lacan bis zu Françoise Dolto, die ein Standardwerk zur Sexualität der keineswegs defizitären Frau verfasste.

Weiblich übrigens war Freuds Lieblingsfigur in seiner Kollektion von Statuetten und Skulpturen: Pallas Athene, die Göttin der Weisheit.

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