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Alternde Gurus: Der Kult der Alten ist ungesund

Eine gesunde Gesellschaft braucht keine 80-Jährigen, die sich benehmen, als wären sie 20 Jahre jünger. Sie sollte ihnen zuhören, sie aber nicht ins Scheinwerferlicht zwingen.

Vielleicht hat es etwas mit erschlaffender Libido zu tun, aber ich lese inzwischen immer häufiger die „Bild“ von hinten nach vorn. Also, erst der Sport, statt auf der Seite 1 die halbnackte Melissa, 21, zu bewundern („hat sich für die Beach-Party extra zurecht gemacht”) und mir Sorgen wegen der Sprossen zu machen. Deshalb weiß ich auch alles über Jens Lehmanns Ambitionen, mit 41 noch einmal für Schalke spielen zu wollen, und über Michael Schumachers Ehrgeiz, Rennen zu fahren, bis er Großvater wird. Formel-Opa.

Es ist Zeit für diese Menschen loszulassen (nicht Melissa! Die noch nicht!) und zu akzeptieren, dass sie etwas anderes tun müssen. Sie sind offenbar überwältigt von einer Eitelkeit, die sie von ihrer eigenen Unersetzbarkeit überzeugt hat. Und nicht nur Sportler. Arnulf Baring zum Beispiel. Warum schreibt er nicht still und leise seine Bücher? Warum muss er uns sagen, was er von der Gesundheitsreform hält? Warum dachte Heiner Geißler, dass er Stuttgart 21 lösen könnte? Früher haben wir auf Reich-Ranicki gehört, weil er Bücher las, damit wir sie nicht lesen müssten. Aber das ist lange her. Inzwischen beschleicht uns der Zweifel, ob er die wirklich alle gelesen hat. Spätestens dann sollten wir sie loslassen. Alter gibt einem Autorität, das ist gut. Aber wenn wir nicht mehr an die gesammelte Weisheit unserer Alten glauben können, ist es besser, wenn wir sie in Hausschuhen ihren Kamillentee trinken lassen, statt sie zu Kultobjekten zu machen.

Das mag jenen Tagesspiegel-Lesern unfair erscheinen, die ähnlich nah an Mick Jaggers Alter sind wie ich. Wir leben in einer Marktwirtschaft, könnte man sagen, und wenn die Menschen bereit sind, Geld für den 107-jährigen Jopi Heesters zu zahlen, dann ist es so. Aber es muss auch jemanden geben, der laut sagt, dass Jopi seit 30 Jahren nicht mehr richtig singen kann. Er ist berühmt wegen seines Alters, nicht wegen seines Talents. Gerade Deutschland verbietet es sich, jemandem das Aufhören nahezulegen, bevor er sich lächerlich macht.

Der deutsche Markt für alternde Gurus wird natürlich vom Fernsehen beliefert, das sich so von der Reflexkultur des Internets absetzen will. Älteren vertraut man, weil sie sich nicht so schnell von der politischen Korrektheit einfangen lassen. Sie haben weniger zu verlieren. Also treten sie bei Maischberger auf, wo fast niemand sie unterbricht. Zu Hause sagen ihnen ihre Frauen, still zu sein und mit dem Hund Gassi zu gehen. Bei Maischberger können sie reden und reden. Dort ist – in einer Wolke aus Rauch – aus dem mürrischen, aber klugen Ex-Kanzler Helmut Schmidt ein Allzweck-Lebensberater geworden. Das entwertet ihn, wird ihm nicht gerecht und wird sich rächen, wenn irgendein junger revisionistischer Historiker in die Archive gehen wird und die Schmidt-Kanzlerschaft zum Misserfolg erklärt. Politiker wissen jedoch nie, wann sie aufhören sollen. Deshalb gibt es Wahlen und Staatsstreiche. Kohl blieb fünf Jahre zu lang im Amt – das Schumacher-Syndrom.

Ich glaube nicht, dass irgendein ausländischer Korrespondent Deutschland je vorgeworfen hat, zu höflich zu sein. Aber genau das ist es: übertriebener Respekt, eine chronische, fast neuralgische Angst davor, den Rat der Alten zu ignorieren und damit die Vergangenheit zu wiederholen. Bei der letzten Wahl habe ich Günter Grass auf seiner SPD-Tour begleitet und war überrascht, wie das überwiegend junge Publikum seine Worte aufsaugte. Er hatte eigentlich nichts Neues zu sagen. Wie auch immer sich sein Schreiben entwickelt hat: Seine politischen Ansichten sind 1972 tiefgefroren worden. Diese unkritische Bewunderung ist nicht Ausdruck einer schlechten Gesellschaft, sondern einer tief konservativen.

Eine gesunde Gesellschaft braucht keine 80-Jährigen, die sich benehmen, als wären sie 20 Jahre jünger. Sie sollte den Älteren Raum geben, sich zu entspannen und nachzudenken. Sie sollte ihnen zuhören, sie aber nicht ins Scheinwerferlicht zwingen. Das ist nicht gut für sie, nicht gut für uns, den Rest: Der Kult des Alten führt zu einer intellektuell unbeweglichen Gesellschaft. Und wenn sie sich gefragt haben, ob nicht auch großschnauzige Auslandskorrespondenten wie ich ein Ablaufdatum haben, dann, ja, das haben sie. Irgendwann müssen auch sie die Klappe halten.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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