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Die Menschen lieben am Sport die großen Gefühle: Der deutsche Gewichtheber Matthias Steiner zeigt nach seinem Olympiasieg 2008 in Peking neben der Goldmedaille und roten Rosen auch ein Foto seiner bei einem Unfall gestorbenen Frau.

© p-a

Der Sinn des Sports: Sieger, Ehre, Schweinehunde

Das olympische Feuer ist entzündet. In 76 Tagen beginnen die Spiele in London. Doch was bringt der teure Spitzensport eigentlich der Allgemeinheit – außer guter Unterhaltung?

Zweihundert Millionen Euro dafür, dass ein paar deutsche Athleten ganz oben auf dem Siegerpodest vor Glück heulen. Zweihundert Millionen, damit die deutsche Nationalhymne vor der Weltöffentlichkeit abgespielt wird. Und die Fahne am höchsten Mast flattert. Braucht Deutschland das?

Das olympische Feuer brennt wieder seit dieser Woche, es läuft jetzt von Griechenland auf London zu, und im Juli und August werden sich dort Athleten im globalen Wettbewerb messen. Alle schauen hin, keiner weiß, wer gewinnt, aber eines lässt sich vorhersagen: Je mehr Geld ein Staat investiert hat, desto mehr Gold kommt heraus. So einfach funktioniert der Wechselkurs des Spitzensports. Dennoch begründen Politiker und Sportfunktionäre die Förderung mit eimerweise Ethik, es gehe um Fairness und Miteinander und Verständigung und Freundschaft und Frieden.

Friedhard Teuffel leitet das Sportressort des Tagesspiegels. 2011 erschien bei Schwarzkopf & Schwarzkopf sein Buch „Timo Boll: Mein China. Eine Reise ins Wunderland des Tischtennis“.
Friedhard Teuffel leitet das Sportressort des Tagesspiegels. 2011 erschien bei Schwarzkopf & Schwarzkopf sein Buch „Timo Boll: Mein China. Eine Reise ins Wunderland des Tischtennis“.

© Doris Spiekermann-Klaas

Sport sei wie eine Pyramide, sagen sie, oben stehen die Besten, an ihnen schauten die Jugendlichen erst hinauf und machten sich dann selbst auf den Weg nach oben. So bleibe die Gesellschaft in Schwung. Diese Vorbildwirkung ist es, mit der in Deutschland die Förderung des Spitzensports legitimiert wird. Welcher Sport das ist, das scheint manchmal gar nicht so wichtig. Es wird kaum diskutiert, gestritten schon gar nicht. Selbst die Grünen lachen heute über ihr alternatives Sportmodell aus alten Tagen und nennen es Federball ohne Zählen. Jeder will sportlichen Erfolg, allenfalls ergänzt um ein freundliches Siegerlächeln und die höfliche Aussage, dass der Gegner doch den Sieg genauso verdient gehabt hätte.

Für London werden daher in diesen Tagen nahezu unwidersprochen von Politikern und Sportfunktionären die Wettkampfziele ausgegeben. Platz fünf soll es wieder sein, so wie vor vier Jahren in Peking, als Athleten aus Deutschland 16 Goldmedaillen mit nach Hause brachten. Was Platz fünf aussagt? Eigentlich gar nichts.

Denn wenn es nach dem olympischen Medaillenspiegel ginge, wäre Deutschland eine Nation von Einzelkämpfern. Unfähig zum Zusammenspiel. In den Mannschaftssportarten sind die deutschen Teams – mit Ausnahme von Hockey und Volleyball – schon in der Qualifikation für London gescheitert.

Die Vitalität eines Landes bildet dieser globale Sportwettbewerb auch nicht ab. Sonst dürften die USA nicht so weit oben stehen. Modellhafte Athletenkörper passen nicht zu einer Bevölkerung, in der zwei Drittel zu dick sind. Über die Motivation des Einzelnen sagt die Nationenwertung im Grunde auch wenig. 2008 in Peking gewannen erstmals die Chinesen die meisten Goldmedaillen. Doch der chinesische Sport ist eine Verbindung von Staatssport und dem Antrieb, den sozialen Aufstieg zu schaffen. Beides würde in Deutschland nicht funktionieren. Vom Staat festgelegte Sportziele nicht. Und der soziale Aufstieg durch Sport klappt in unserer Gesellschaft allenfalls noch durch Profi-Fußball.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Dopingfahnder kommen nicht mehr nach

In der Sportart dagegen, die vielleicht am besten zu unserer Gesellschaft passt, wird in London kein deutscher Athlet eine Medaille gewinnen: Laufen. Die Parks sind voll von Joggern, Laufen lässt sich in jeden Tag integrieren, und jeder findet seine eigene Form. Es gibt Alleineläufer, den locker organisierten Lauftreff und Laufen im klassischen deutschen Sportverein. Die Teilnehmerzahlen bei den Marathons sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Die besten deutschen Marathonläufer werden dafür immer langsamer. Inzwischen brauchen sie zehn Minuten länger als die schnellsten afrikanischen. Bei Olympia werden sie gar nicht erst am Start sein. Die Masse ist breit und glücklich, die Spitze langsam und einsam. Nur: Wofür braucht man dann noch die millionenschwere Spitzensportförderung?

Die Pyramide bröckelt. Viele Jugendliche haben ihre Vorbilder jenseits der olympischen Bewegung gefunden. In Internetvideos schauen sie sich Kunststücke von Snowboardern oder BMX-Radfahrern ab. Sie werden nie in einen Verein eintreten, nie mit dem staatlich geförderten Sport in Berührung kommen, auch wenn das Internationale Olympische Komitee inzwischen versucht, so viele junge Sportarten wie möglich in sein Programm aufzunehmen, damit es nicht bald so wirkt, als hätte sich seit der Antike nichts getan.

"Ohne Sport, das geht gar nicht."
"Ohne Sport, das geht gar nicht."

© Illustration: Reiner Schwalme

Aber auch in der Vorstellung der Olympia-Funktionäre gibt es immer noch einen wenn auch steilen und beschwerlichen, aber durchlässigen Weg an die Spitze. Doch unterwegs warten verschlossene Türen. Da kommt nicht jeder durch. Ein Schlüssel ist Selbstaufgabe. Wie in China. Den Weg bedingungslos akzeptieren, den der Trainer vorgibt. Wer aufmuckt, fliegt raus. Aber wir in Deutschland wollen doch den mündigen Athleten. Der nebenher noch studiert und eine Stiftung für sozial benachteiligte Kinder unterstützt.

Ein anderer Schlüssel ist Doping. Manche sportlichen Leistungen sind ohne Doping nicht zu erreichen. Sportverbände orientieren sich trotzdem mit ihren Qualifikationsnormen für Olympische Spiele an verdächtigen Ergebnissen. Das könnte man fast als Aufforderung zum Doping verstehen.

Der Beste zu sein und gleichzeitig gut, also sauber und fair, das ist das Ideal des Leistungssports. Geht das überhaupt? Es ist eher die olympische Illusion, genährt von der Hoffnung, dass zum Beispiel die Leistungen des amerikanischen Schwimmers und Rekordolympiasiegers Michael Phelps oder des Sprint-Weltrekordhalters Usain Bolt aus Jamaika mit Jahrhunderttalent zu erklären seien. Doch in vielen Sportarten können die Sauberen und Fairen nicht mehr mithalten. Das Publikum scheint sich ohnehin längst damit arrangiert zu haben. Hauptsache, die Show stimmt. Doping ist emotional eingepreist. Das Publikum hat im Hinterkopf, dass der Sieger vor dem Wettkampf mit Pillen oder Spritzen nachgeholfen haben könnte. Aber da war es zum Glück ja nicht dabei. Und so wirkt die Spitzenleistung noch authentisch: Ich habe sie doch mit meinen eigenen Augen gesehen.

Die Sportorganisationen geben sich Mühe, wenigstens den Anschein zu erwecken, dass es noch fair zugeht. Das Doping-Kontrollsystem erwischt immer wieder welche, aber auch nicht zu viele. So entsteht ein Bild von vielen Guten und wenigen Schurken. Der wahre Kampf gegen Doping hingegen lahmt, er droht sogar zu kippen. Es würde Millionen kosten, mit neuen Nachweisverfahren wieder zu den Betrügern aufzuschließen. Doch woher sollen die kommen? Die Bundesregierung ist es leid, die Hauptlast der Dopingbekämpfung zu tragen. Gerade hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich bei einem Runden Tisch Länder, Kommunen und die Wirtschaft aufgefordert, Geld für den sauberen Sport zu geben. Das Ergebnis: Die Stadt Eschborn spendet 50 000 Euro.

Doping nervt. Es geht keinen Schritt voran. In der Wirtschaft ist damit kein verkaufsfördernder Imagetransfer auf die eigene Marke mehr zu erreichen. Das Thema hat keine Konjunktur mehr, es wurde im Sport abgelöst vom Kampf gegen Korruption und Manipulation.

Dass der Hochleistungssport an Natürlichkeit verliert, hat jedoch nicht dazu geführt, das System des Leistungssports infrage zu stellen. Und man male sich nur einmal aus, was passierte, wenn Deutschland die Sportförderung einstellte und nur noch neunte, zehnte oder elfte Plätze herauskämen. Werden sich alle darüber freuen? So tun, als wenn die anderen sowieso alle gedopt sind, unsere Sportlerin und unser Sportler zwar nicht die Schnellsten, aber die Edelsten unter den Besten sind? Es wäre ein ziemlich verkopfter Jubel.

Sport darf und muss auch Unterhaltung sein, und der Staat kann ihn auch vor diesem Hintergrund fördern. Bei Olympia 2008 wurde Matthias Steiner zum Helden. Nicht nur, weil der Gewichtheber die dicksten Scheiben auf seiner Hantelstange nach oben wuchtete. Seine Geschichte berührte. Steiner zeigte auf dem Siegerpodest das Foto seiner verunglückten Frau. Eben noch der Stärkste, dann auf einmal ganz weich. Am Ende wurde er Deutschlands Sportler des Jahres.

Eine Goldmedaille kann Teilen, sogar großen Teilen der Gesellschaft ein wohliges Gefühl geben. Da hat es einer von uns geschafft. Er ist jeden Morgen aufgestanden, hat sich gequält und ist jetzt der Beste der Welt. Stellvertretend für alle hat er den inneren Schweinehund besiegt. Hier wird der Sport zum Modell. Wenn auch die Sportler keine Vorbilder sind, weil sie dopen oder Steuern hinterziehen oder durch Schwalben Elfmeter provozieren – der Sport an sich kann ein vorbildliches Modell sein. Zum Ausleben des natürlichen Ehrgeizes. Um sich anzustrengen, zu verbessern, zu messen, und auch mal mit einer Niederlage umzugehen. Nicht zu vergessen als Mittel zur Integration, weil die Stoppuhr eben nicht nach Hautfarbe oder Religion unterscheidet.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie der Breitensport unter dem Föderalismus leidet

Dafür braucht ein Land auch seinen Spitzensport. Der Spitzensport hält das Modellhafte des ganzen Sports präsent. Weil er beste Unterhaltung sein kann, wahrt er seinen Platz in den Massenmedien, auch wenn die Vielfalt des Sports allenfalls noch bei den Olympischen Spielen übertragen wird und der Sinn des Sports zwischen lautem Hurra und Motorenlärm manchmal kaum zu vernehmen ist. Der Spitzensport transportiert Faszination und Ästhetik, wenn afrikanische Läufer federleicht und elegant durch die Straßen rennen wie über den schnellsten Laufsteg der Welt. Und der Spitzensport erzählt Geschichten. Von Dirk Nowitzki, der es als Fremder schafft, sein Team zum Sieg in der amerikanischen Profi-Basketballliga zu führen. Von der Turnerin Oksana Tschussowitina, die mit 33 Jahren und als Mutter eines Sohnes eine olympische Medaille im Turnen gewinnt, der Sportart, von der man glaubte, sie sei nur etwas für zierliche Mädchen. Vom italienischen Rennfahrer Alessandro Zanardi, der nach einem Unfall beide Beine verliert und jetzt strahlend erzählt, wie sehr er sich auf seine ersten Paralympics im Handbike freut.

Sie alle sind Rollenmodelle, sie zeigen mit ihrem Erfolg nicht unbedingt, was uneingeschränkt gut, aber was im und durch Sport machbar, erreichbar, erlebbar ist. Als Teilnehmer am Spiel der unbegrenzten Möglichkeiten.

Das Gefühl des eigenen Sporttreibens wird das des Mitfieberns und Mitjubelns immer übertreffen. Weil die Wirkungen des Sports für das Wohlbefinden, seine körperlichen, psychischen und sozialen Effekte gar nicht unterschätzt werden können. Wer regelmäßig joggt, kann sechs Jahre länger leben, hat gerade eine dänische Studie herausgefunden. Vielleicht werden es sogar sechs glückliche Jahre. Der amerikanische Arzt Steven Horowitz erklärt, dass zum Beispiel Tischtennis gut für die Seele sei und auch ein geeignetes Rezept gegen Altersdepression: „Der Wettkampf hat eine symbolische Bedeutung. Er verscheucht die Dämonen und lässt die Leute sich jünger fühlen.“

Die Förderung des Spitzensports nützt daher nichts, wenn in der Turnhalle aus der Dusche nur kaltes Wasser kommt. Wenn ein Verein keine Übungsleiter mehr findet. Oder die Schulsportstunde ausfällt. Die Millionen für Spitzenathleten verkommen dann zum Selbstzweck. Nicht alle Ursachen für solche Defizite liegen beim Staat, aber hier können Politiker beweisen, ob sie an ihr Pyramidenmodell glauben. Zu beobachten ist bisher, dass jeder sich für eine Stufe verantwortlich fühlt und sich wie immer auf den Föderalismus beruft. Wir im Bund fördern die Spitze. Wir in den Ländern den Nachwuchs. Wir in den Kommunen sanieren Sportanlagen, wenn wir noch ein bisschen Geld finden. In einer Phase des Umbruchs kann diese Haltung schwerwiegende Folgen haben.

In der Umstellung auf Ganztagsschulen, der Schulzeitverkürzung bis zum Abitur auf zwölf Jahre, könnten dem Sport die Kräfte schwinden. Für ihn bleibt weniger Zeit. In den Stunden, die Jugendliche früher im Verein verbrachten, sitzen sie heute in der Schule. Der Sport muss also selbst zur Schule gehen, Kooperationen anbieten, aber auf diesem Weg befindet er sich noch am Anfang.

Auf Siege seiner Athleten kann sich keine Nation etwas einbilden. Aber seine Bürger können sich mit ihnen freuen und sich von ihnen inspirieren lassen. Ein Sportschuh wird erst daraus, wenn sie sich nach bewegten Bildern und bewegenden Geschichten selbst bewegen. Welches Land will schon Olympiasieger im Fernsehen werden?

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