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Die Rückkehr des alten Europa: Dänische Polizisten an der deutsch-dänischen Grenze

© Palle Peter Skov/dpa

Deutschland: Großer Grenzverkehr

Europa zieht seine Binnengrenzen wieder hoch. Die Flüchtlingskrise zeigt aber: Auch die Öffnung eines Landes ist ein Akt der Souveränität.

Dem Grundgesetz scheint sie schnurz zu sein. Das Wort Grenze tauchte dort schon in der Fassung von Mai 1949 erst in Artikel 97 auf, und da geht es nicht um Schlagbäume, sondern um eine unabhängige Justiz und die Altersgrenzen der Richter. Mit Einführung der Schuldenbremse sind ein paar Grenzen mehr in die Verfassung gerutscht, aber auch die Grenzen der Nettokreditaufnahme sind nichts, was sich mit Zäunen sichern ließe.

Eine wasserdichte Grenze ist keine

In der öffentlichen Debatte wird die Grenze dennoch gerade wie ein Grundwert gefeiert. Und während die EU-Nachbarn im Süden und Norden ihre befestigen und wieder kontrollieren, werden bei uns Katastrophen herbeigeredet, wo keine Grenzen sind. In seiner Neujahrsansprache – ein Beispiel von vielen – malte Sachsens Landtagspräsident in dieser Woche das Ende der Republik an die Wand, weil sie aktuell „keine notwendigen Grenzen mehr kennt, keine Grenzen hat, keine Grenzen sichert“.

Ob das so ist, ob die Kanzlerin im September die deutschen Grenzen niedergerissen hat, als sie sie für die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge aus Syrien zeitweise öffnete – dies ist schließlich der Schlüsselmoment der Debatte –, schon darüber lässt sich streiten. Weniger strittig ist, dass Grenzen erst festlegen, wo ein Staat liegt und wo er endet, und auch, dass er das Recht hat, diese Grenzen zu beschützen. Zur Grenze gehört aber auch immer das, was jenseits von ihr ist. Grenzregionen sind die Räume intensivster, täglicher Überschreitungen, des kleinen Grenzverkehrs. Grenzen, die mit allen Mitteln gesichert sind, sind Gefängnismauern – das sollte in Deutschland eigentlich gesichertes Wissen sein.

Ent-Grenzung und das Fremde

Eine wirkliche Grenze ist nicht wasserdicht, womöglich lässt sie sich sogar unbemerkt überschreiten. Gerät etwa irgendein Staat durch die schiere Existenz grüner Grenzen an seinen Rändern in Gefahr? Und haben 30 Jahre Schengen – der Anstoß zum Fall innereuropäischer Schlagbäume kam 1985 – die Souveränität Deutschlands und anderer Staaten untergraben? Selbst die militantesten Verteidiger des Nationalstaats hielten das für keinen Kriegsschauplatz, sondern witterten Gefahr durch den Euro, EU-Richtlinien oder den Gerichtshof in Luxemburg.

Psychoanalytiker könnten aus der neuen Furcht vor Entgrenzung und ihrer Verbindung mit Flüchtlingen, dem „Fremden“, eigene Schlüsse ziehen. Aber bleiben wir in der Politik: Grenzen als hermetisch misszuverstehen und sie in dieser Form zum wichtigsten Ausdruck staatlicher Souveränität zu vergötzen, heißt ihre Funktion und Geschichte zu verdrehen. Wenn schon im friedlichen Alltagsbetrieb Offenheit zu ihnen gehört, gilt das in Krisen erst recht. Wenn Kriege die Nachbarschaft verwüsten, wenn Naturkatastrophen das Leben jenseits des eigenen Vorgartens unmöglich machen, hilft nicht der Blick ins Grundbuch, um die genaue Grundstückslinie herauszufinden, sondern nur, die Tür zu öffnen.

Auch Grenzöffnung ist ein Akt der Souveränität. Womöglich der eigentliche.

Ersatzgrenze Obergrenze

Ein wenig absurder noch als die luftdichte nationale Grenze ist die fiktive „Obergrenze“. Ihre Linie hat Bayerns Ministerpräsident soeben bei 200 000 Flüchtlingen pro Jahr gezogen. Woher er sie hat? Keine Antwort. Vielleicht hat sie ein anderer Populist längst gegeben, der vor Jahren, mit Fantasiedaten zur arabischen Bevölkerung Berlins erwischt, freimütig gestand: Wenn er keine Zahl habe, dann mache er sich einfach eine.

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