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Meinung: Deutschland kann es besser

Von Helmut Schmidt

Wieder erleben wir einen schwarzmalerischen Herdenjournalismus in Deutschland. Sind die Alarmrufe berechtigt? Ja – aber.

Denn schwere Sorgen sind angezeigt. Wer tut etwas gegen die Malaise? Kanzler Schröder und seine Leute kämpfen darum, wenigstens einen Teil der drängenden gesetzgeberischen Schritte zu verwirklichen. Aber die Mehrheit des Volkes gibt sich dem Selbstmitleid und der von vielen Medien verbreiteten Massenpsychose der Ablehnung hin. Dabei darf es nicht bleiben. Haben wir nicht von Lassalle gelernt: „Aussprechen, was ist“? Wer die Tatsachen verschweigt oder beschönigt, kann kein Übel kurieren.

Tatsache ist: Ein Zehntel der arbeitsfähigen Deutschen hat keinen Arbeitsplatz; schon zu Kanzler Kohls Zeiten hatten wir über vier Millionen Arbeitslose. Tatsache ist: Im kommenden Winter werden es fünf Millionen sein. Wenn keine durchgreifenden Korrekturen erfolgen, kann die Arbeitslosigkeit steigen. Arbeitslose zahlen keine Steuern und keine Versicherungsbeiträge, wohl aber kostet eine zusätzliche Million Arbeitslose den Staat zusätzliche 15 Milliarden Euro. Tatsache ist: Unsere Wirtschaft stagniert. Tatsache ist: Seit 1995 ist der Aufholprozess der sechs östlichen Bundesländer zum Stillstand gekommen – trotz ungeheurer Finanztransfers, die ständig drei bis vier Prozent unseres Sozialproduktes in Anspruch nehmen. Tatsache ist: Wegen der stetigen Überalterung unserer Gesellschaft und der Frühverrentung als Regelfall wird die Finanzierbarkeit der Renten zu einem Hauptproblem des Haushalts.

Fehler bei der Wiedervereinigung

Erstens: Die weitgehend gesetzlich festgezurrten Strukturen von Gesellschaft und Wirtschaft sind veraltet, sie sind den großen Veränderungen in der Weltwirtschaft nicht mehr angemessen. Die Arbeitslosigkeit ist zu drei Vierteln strukturbedingt, also hausgemacht – und das seit einem Jahrzehnt. Wir Deutschen leiden mindestens seit 1989 an einem Reformstau. Aber schon einige der Reformen der siebziger Jahre und die drei großen Grundgesetzreformen der Großen Koalition (1966–69) sind fehlerhaft gewesen, weil sie zu finanzwirtschaftlicher Entmündigung der Länder und Städte sowie zur Verwischung der Verantwortung geführt haben.

Zweitens: Deutschland ist durch eine illusionistische Propagierung und teilweise fehlerhafte Handhabung der wirtschaftlichen Wiedervereinigung einem besonderen ökonomischen Handicap ausgesetzt. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist doppelt so hoch wie im Westen, die Produktivität aber um fast ein Drittel niedriger.

Drittens: Wir haben es mit einer fast weltweiten konjunkturellen Abflachung zu tun. Die USA, Japan, Brasilien, Argentinien, neuerdings wegen Sars auch China leiden unter Wachstumsschwund und Arbeitslosigkeit, so auch Euroland und damit Deutschland.

Das strukturelle Problem ist nur langfristig zu lösen. Es legt jedem Ökonomen Einsparungen bei vielerlei Haushaltsausgaben nahe. Aber starke Kürzungen wären heute Gift für die Konjunktur. Umgekehrt kann der heutige Abschwung nicht nur niedrige Zentralbankzinsen erfordern, sondern vor allem deficit spending, also die Ausweitung staatlicher Ausgaben, die durch zusätzliche Kreditaufnahme finanziert werden. Den Weg des „Konjunkturprogramms“ wollen viele ehemalige Marxisten, die sich zu VulgärKeynesianern gewandelt haben, beschreiten – ähnlich die Wortführer von Verdi, IG Metall und DGB oder Lafontaine. Dabei bleiben sie blind für die wachsende Schuldenlast kommender Haushalte. Außerdem bevormunden Konjunkturprogramme die Länder und Kommunen immer stärker und weiten die immer komplizierteren Bürokratien aus. Stattdessen wünschen die Unternehmerverbände und „Bild“ eine Steuersenkung – natürlich ebenfalls auf Pump.

Das Dilemma zwischen Kredit- und Ausgabenausweitung oder Steuersenkung und strukturpolitisch gebotener Ausgabenkürzung wird Anfang Juni auf dem Weltwirtschaftsgipfel der G 8 in Evian zur Sprache kommen – das war schon einmal zu Zeiten von Jimmy Carter der Fall. Damals wollte er Deutschland und Japan der Weltwirtschaft als „Lokomotiven“ vorspannen und uns (ohne großen Erfolg) zu weitreichendem deficit spending drängen. Später hat der Nachfolger Reagan auf eigene Faust ein großes amerikanisches Haushaltsdefizit bewirkt. Jedoch sind größere Früchte erst in Clintons Amtszeit gereift; gleichzeitig wurde aber eine astronomische Schuldenlast aufgehäuft (einschließlich hoher Auslandsschulden). Gegenwärtig wiederholt Bush jr. das Reagan’sche Experiment. Deutschland darf sich auf derlei Abenteuer nicht einlassen.

Wenn es jedoch zu einer weltweiten Konjunktur- oder Deflationskrise kommt und dann auch haushaltspolitisch dagegengesteuert werden müsste, dürften wir nur eine konzertierte Aktion aller acht Gipfelstaaten plus Weltwährungsfonds akzeptieren. Im Mai 2003 stehen wir nicht vor einer solchen Weltlage. Deutschland braucht heute Ruhe an der Steuerfront. Das gilt auch für die Mehrwert-, Erbschaft- oder für eine neue Vermögensteuer.

Zweckmäßig ist es, die konjunkturell bedingten Steuerausfälle hinzunehmen und nicht durch höhere Steuersätze auszugleichen, sondern vielmehr durch eine vorübergehend höhere Kreditaufnahme (unsere private Sparrate ist sehr hoch, und das Geld will angelegt sein). Damit überschreitet das deutsche Defizit zwar weiterhin die Drei-Prozent-Grenze des Stabilitätsvertrages. Weil aber andere Euro-Staaten sich in vergleichbarer Lage befinden oder befinden werden, wird man vernünftigerweise zu einer gemeinsamen Regelung kommen (zumindest einer gemeinsamen Interpretation).

Die Rezession ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Darunter verbirgt sich das die Wirtschaft erstickende Geflecht von Abertausenden gesetzlicher und obrigkeitlicher Vorschriften. Auch wenn der Abschwung überwunden sein wird, bleibt Deutschland ein Schlusslicht in Westeuropa. Es sei denn, wir stellten die Weichen um!

Angst vor dem Wähler

Im Wahlkampf haben SPD, CDU/CSU und die drei kleinen Parteien unsere strukturelle Misere zwar gekannt, aber diese aus Angst vor den Wählern ignoriert. Dies gilt keineswegs allein für den Finanzminister des Bundes, sondern ebenso für die Finanzminister in München, Stuttgart, Dresden, Düsseldorf et cetera – und für alle 17 Regierungschefs. All die Wahlprogramme haben von Illusionen gestrotzt. Der fein ziselierte Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen hat dem Illusionismus noch die Krone aufgesetzt.

Heute gibt es in beiden Volksparteien heftigen Streit, weil starke Verbände, Gewerkschaften und Funktionäre ihre Machtinteressen verteidigen und auf das Massivste die Abgeordneten unter Druck setzen. Woran kann sich der „nur seinem Gewissen unterworfene“ Abgeordnete halten, wenn er denn die Notwendigkeit des Strukturumbaus begriffen hat?

Er könnte wählen zwischen der Agenda 2010 (Kanzler-Rede vom 14. März) oder dem „Gemeinsamen Beschluss“ von CDU und CSU (4. Mai ). Dazu kommen die „Wege aus der Krise“ der Bundesbank (März) oder das Jahresgutachten des Sachverständigenrates (9. November). Mit der wichtigen Ausnahme der de facto vorgeschlagenen und dringend notwendigen Aufhebung des flächendeckenden Tarifvertrages und einiger Arbeitsmarkt-Details bleibt der Katalog der CDU/CSU erheblich hinter der Agenda 2010 zurück. Aber auch diese lässt einige dringend notwendige Korrekturen außer Acht, ebenso wie die Vorschläge der Bundesbank und der Sachverständigen. Sie sind hilfreich, aber zu schmal.

Den umfassendsten Umbau-Entwurf aber könnte ein Abgeordneter in Roman Herzogs Adlon-Rede vom 26. April 1997 finden. Diese steht nicht im Verdacht, der Regierung oder einer Partei dienen zu wollen. Sie ist auch nach sechs Jahren brandaktuell, denn sie enthält alles Entscheidende. Sie geht notwendigerweise über Schröders, Merkels und Stoibers Konzepte weit hinaus. Übrigens findet sich dort auch diese Passage: „Scheinsachverständige mit Doktortitel äußern sich, Hauptsache, es wird kräftig schwarz gemalt und Angst gemacht. Wissenschaftliche und politische Scheingefechte werden so lange geführt, bis der Bürger restlos verwirrt ist … Unser Land befindet sich aber in einer Lage, in der wir es uns nicht mehr leisten können, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen.“ Dies ist auch heute richtig, zumal die Lage noch ernster ist als anderthalb Jahre vor Ende der Ära Kohl.

Die Regierung Schröder scheint zu begreifen, dass das Wohl des Vaterlandes höher stehen muss als das der eigenen Partei. Ein Teil der sie tragenden Abgeordneten ist leider noch nicht so weit. Die Opposition spielt damit, in vielerlei Details im Bundesrat die Agenda 2010 zu blockieren. Diese ist zur Gänze unverzichtbar, sie ist aber nur ein erster Schritt. Frau Merkel hat erklärt, „zu einer nationalen Kraftanstrengung bereit“ zu sein, aber sie lässt sich Hintertüren offen und propagiert Steuersenkungen, die wir uns jetzt nicht leisten können. Koch (CDU) und Steinbrück (SPD) geben ein besseres Beispiel, wenn sie gemeinsam daran arbeiten, die staatlichen Subventionen schrittweise zurückzufahren, die alljährlich den Bundeshaushalt mit über 20 Milliarden Euro belasten.

Der Bundesrat hat die Aufgabe, die Interessen der Bundesländer zu wahren, keineswegs aber die macht- und wahltaktischen Interessen der politischen Parteien. Deutschland leidet an tausend Verhinderungsinstanzen. Wer auch den Bundesrat dazu macht, missbraucht die Verfassung. Bundespräsident Rau sollte an die 16 Länderfürsten appellieren, sich nicht noch einmal von den Parteizentralen kommandieren zu lassen. Zugleich muss der Kanzler auf die Opposition zugehen – und umgekehrt. In einer Notlage müssen alle Parteien die Gefahren in enger Zusammenarbeit abwehren.

Es ist eine erstaunliche Oberflächlichkeit der Diskussion, dass nicht erkannt wird, wie sehr das Überwuchern der Bundesgesetzgebung die Handlungsfreiheit der Länder und der Städte beschnitten und sogar gelähmt hat. Der Normalbürger kann sich dieses Dickicht kaum vorstellen. Wer die Verkrampfung lösen will, muss klare Zuständigkeiten herstellen. Die so genannte Finanzreform des Jahres 1968, welche die Länder finanzpolitisch entmündigt hat, bedarf dringend der Korrektur.

Am schlimmsten ist die Lage der sechs ostdeutschen Länder, denen man 1990 Tausende von Gesetzen übergestülpt hat. Deren Landtage brauchen einen eigenen Spielraum für Deregulierung, damit ein Mittelstand sich entwickeln kann. Der Osten braucht einen Vorteil bei den bundesgesetzlich fixierten ökonomischen Rahmenbedingungen. Der Osten kann nicht auf Dauer mit Transfers von jährlich um 65 bis 75 Milliarden Euro rechnen, braucht aber eine spürbare Mehrwertsteuer-Präferenz für ostdeutsche Produkte. Das wirtschaftliche Zurückbleiben unseres Ostens ist ein schwerer Hemmschuh für die gesamte Volkswirtschaft – und eine schwere Bürde für den Sozialstaat. So ist Deutschland Hemmschuh für das Wachstum von Euroland geworden.

Weniger Talkshow-Geschwätz

Die meisten strukturellen Fehlentwicklungen muss die ganze politische Klasse verantworten, so auch die Verdoppelung der Schuldenlast von Bund, Ländern und Städten in den letzten 20 Jahren. Alledem liegt übertriebener Opportunismus gegenüber Wählern zugrunde. Sogar noch in diesem Frühjahr haben alle die erpresserische Streikdrohung von Verdi hingenommen. Die Wortführer müssen sich ihres Opportunismus bewusst werden. Etwas weniger politisches Geschwätz in den Fernseh-Talkshows, bitte.

Optimismus fällt uns gegenwärtig nicht leicht. Aber die erste Nachkriegsgeneration hat doch Zielstrebigkeit und Tatkraft vorgemacht – und die heutige Generation deren Gene geerbt. Sie hat auch den demokratischen Aufbau geerbt, die Leistungsfähigkeit, den Sozialstaat und die Vereinigung der lang geteilten Nation. Unsere Wirtschafts- und Exportkraft steht hinter Amerika und Japan an dritter Stelle. Unsere Löhne sind die höchsten der Welt; wir haben die meisten bezahlten Feier- und Urlaubstage; unser Gesundheitssystem ist eines der besten der Welt. Unsere Renten sind höher als je zuvor, unser Wohlstand und unsere privaten Ersparnisse sind es auch. Unter diesen glänzenden Voraussetzungen sollen unsere Politiker zum Umbau nicht fähig sein? Wollen wir denn auch noch Weltmeister im Jammern werden?

Selbstverständlich kann während des Umbaus der Wohlstand nicht steigen. Aber ohne Umbau würde er sinken und sinken.

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