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Deutschland: Multikulti ist gescheitert – von wegen!

In Deutschland wird Multikulturalismus nur noch verspottet. Doch das Konzept kann funktionieren, wie Kanada lehrt. Denn hierzulande wird das Konzept des Multikulturalismus lediglich falsch verstanden, meint Lars von Törne.

Eine Idylle sieht anders aus. „In unserem Viertel gibt es immer mehr Moscheen, und die Gemeinden zwingen die jungen Mädchen zum Kopftuchtragen“, klagt eine blonde Frau. – „Die Einwanderer wollen euch nicht ändern, also versucht auch nicht, ihnen Vorschriften zu machen“, entgegnet eine junge Muslimin. – „Unsere Schüler können sich noch so sehr anstrengen, trotzdem bekommen sie immer nur die Jobs zweiter Klasse“, sagt eine schwarze Lehrerin aus einem Viertel mit vielen Einwanderern. Eine Klage folgt der anderen, Einwanderer und Alteingesessene liefern sich Wortgefechte, während vorne auf dem Podium des Kongresszentrums der kanadischen Metropole Montréal der Philosoph Charles Taylor sitzt.

So hatte er sich das nicht gedacht, der 75-jährige Vordenker des Multikulturalismus, der auch in Deutschland viele Anhänger hat. Seit Jahrzehnten wirbt er für die von ihm mitentwickelte Philosophie, die die staatlich geschützte und geförderte ethnische Vielfalt zum Grundprinzip des liberalen Einwanderungsstaates macht – ein Modell, das von Kanada aus um die Welt ging und in Ländern wie Australien und Großbritannien Nachahmer fand. In Deutschland stieß die Idee vor allem in linksalternativen Kreisen auf Sympathie. Vor allem aber wurde der Begriff in letzter Zeit zum negativ besetzten Schlagwort in einer Debatte über Integrationsdefizite. Deren Fazit zog der Neuköllner Bürgermeister und Sozialdemokrat Heinz Buschkowsky: „Multikulti ist gescheitert.“

Feststellungen wie diese offenbaren ein grundlegendes Missverständnis des Multikulturalismus- Konzeptes. Denn so, wie der Begriff meist in der aktuellen Debatte benutzt wird, war er nicht gedacht. Das zeigt das Beispiel Kanadas, wo das Konzept vor rund 40 Jahren in die Politik eingeführt und 1971 zum Staatsziel erhoben wurde. Die kanadische Erfahrung lehrt vor allem zwei Dinge: Multikulturalismus kann funktionieren; eine statische, konfliktfreie Patentlösung für mit Einwanderung verbundene Herausforderungen ist das Konzept aber nicht.

Statt das Multikulturalismus- Konzept rundheraus für gescheitert zu erklären, ist in Kanada ein produktiver Streit darüber entbrannt, wie man es an neue Herausforderungen anpassen kann. Vor allem manche in der schnell wachsenden muslimischen Bevölkerungsgruppe vertretenen Wertvorstellungen sind es, die dem westlich-liberalen kanadischen Selbstverständnis widersprechen, unter anderem zur Rolle der Frau und zur Bedeutung von Religion im Alltag. Multikulti-Vordenker Taylor leitet eine Kommission, die von der Regierung der Provinz Québec eingesetzt wurde. Deren Mitglieder sollen in öffentlichen Versammlungen wachsende Unmutsäußerungen der Bevölkerung angesichts zunehmender Einwandererzahlen aufnehmen und Vorschläge erarbeiten, wie man den Bedürfnissen aller Beteiligten besser entgegenkommt, ohne dass dadurch andere Gruppen sich unzulässig in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen. Das hat eine Debatte provoziert, die sich schnell auf ganz Kanada ausgeweitet hat.

Einige dramatische Vorfälle haben die Diskussion zusätzlich angeheizt. Der bislang letzte ist die Tötung von Aksa Parvez. Die 16-jährige Schülerin war Mitte Dezember von ihrem Vater erwürgt worden. Der aus Pakistan stammende Taxifahrer lebte mit seiner Familie in einem Vorort von Toronto. Offenbar hatte es zwischen ihm und der in Kanada aufgewachsenen Tochter in letzter Zeit zunehmend Streit über die Frage gegeben, ob ihr Lebensstil einem muslimischen Mädchen angemessen sei. Ein tragischer Vorfall, der das Problem illustriert, das im Zentrum der Debatte steht: Lassen sich potenziell illiberale Traditionen und Verhaltensweisen mit liberalen, rechtsstaatlichen Grundprinzipien vereinbaren?

Die Debatte in Kanada erinnert auf den ersten Blick an die Diskussion in Deutschland, die durch den Neuköllner „Ehrenmord“, die Vorgänge um die Rütli-Schule oder zuletzt die Empörung muslimischer Aleviten über einen angeblich verunglimpfenden „Tatort“-Krimi angeheizt wurde. Die meisten Kanadier kommen jedoch zu anderen Schlüssen als viele Wortführer der deutschen Debatte. Das liegt auch daran, dass der Multikulturalismus in seinem Herkunftsland nicht im Stadium des simplen Schlagwortes steckengeblieben ist. Er steht für ein umfassendes System aus Gesetzen und Regeln, aus Angeboten für und Forderungen an Einwanderer, die auf lange Sicht das zum Ziel haben, was auch viele deutsche Gegner des Multikulturalismus fordern: Integration.

In Deutschland hingegen wird „Multikulti“ in der Regel reduziert auf einen Kampfbegriff, der das Gegenteil von Integration impliziert. Er wurde, wie in dem aktuellen Buch „Abschied von Multikulti“ des Bremer Politologen Stefan Luft, zum Synonym für eine nicht vorhandene Einwanderungspolitik, für die jahrzehntelangen staatlichen Versäumnisse gegenüber Gastarbeitern, Einwanderern und Flüchtlingen aus der Annahme heraus, sie würden ihren Platz in der Gesellschaft schon finden – oder das Land wieder verlassen.

Dabei wird oft übersehen, dass der Multikulturalismus in seinen Ursprüngen nie als Freibrief für Menschen unterschiedlicher Kulturen und Traditionen gedacht war, sich über die Spielregeln der liberalen Demokratie hinwegzusetzen oder in Parallelgesellschaften einzurichten. Im Gegenteil: Multikulturalismus sollte als verbindendes Element in einer zunehmend von Einwanderung geprägten Gesellschaft fungieren. Bis heute wird das Konzept in Kanada als Weg zur Integration verstanden, nicht zur Abgrenzung.

So weist die Regierung in einer Bilanz der Multikulturalismus-Politik darauf hin, dass seit der Einführung des Konzeptes mehr Einwanderer die kanadische Staatsbürgerschaft angenommen haben als zuvor. Vielfalt als Voraussetzung für Einheit: So verstand auch Premierminister Pierre Trudeau den Multikulturalismus, als er ihn im Oktober 1971 zur Staatsdoktrin machte: „Nationale Einheit basiert auf dem Vertrauen in die individuelle Identität jedes Einzelnen.“

Dazu gehörten von Anfang an unter anderem die massive Förderung des Erwerbs der offiziellen Staatssprachen Französisch und Englisch sowie der Austausch zwischen allen Bevölkerungsgruppen – also eben nicht die Schaffung von Parallelgesellschaften, die in Deutschland heute oft mit dem Begriff verbunden wird. „Je sicherer wir uns in einem bestimmten sozialen Umfeld fühlen, desto mehr sind wir frei, unsere Identität darüber hinaus zu erkunden“, sagte Trudeau damals. Eine Erkenntnis, die sich 36 Jahre später auf viele problematische Viertel Berlins mit hohem Migrantenanteil übertragen lässt: Wer sich dort den Spielregeln der Mehrheitsgesellschaft verweigert, tut dies in der Regel nicht, weil er sich sprachlich, kulturell und sozial sicher und geborgen fühlt. Und andersherum bringen sich erfahrungsgemäß gerade jene Migranten besonders stark in die Gesellschaft ein, die sich ihres sozialen und kulturellen Hintergrunds sicher sind.

Basierend auf dieser Erkenntnis entwickelte sich das Einwanderungsland Kanada, das proportional jährlich mehr Menschen aus aller Welt aufnimmt als jeder andere Staat der Welt, zum Musterbeispiel dafür, dass kulturelle Vielfalt und Integration sich nicht ausschließen müssen. Das Prinzip des Multikulturalismus wurde in Gesetzen und Programmen verankert und ist heute selbstverständlicher Teil des kanadischen Alltags.

Es reicht von mehrsprachigen Hilfsangeboten für Einwanderer über die finanzielle Unterstützung zahlloser Kulturvereine bis hin zu Sonderregelungen für ethnische Gruppen, die zum Beispiel bei der Polizei arbeitenden Sikhs erlauben, statt des sonst üblichen Stetson-Hutes einen Turban zu tragen. Und in den Schulen gehört die umfangreiche Förderung von Einwandererkindern zum selbstverständlichen und mit wesentlich mehr Geld und Personal ausgestatteten Angebot – oftmals sowohl in der jeweiligen Muttersprache als auch in einer der beiden offiziellen Landessprachen. Die multikulturelle Philosophie wird auch dadurch illustriert, dass Kanada neuen Bürgern die doppelte Staatsangehörigkeit zugesteht – ein Angebot, von dem allerdings nur etwa zwei Prozent der Bevölkerung Gebrauch machen.

Kanada zieht offensichtlich viele Menschen an, die bereit sind, das Land ganz als neue Heimat anzuerkennen. Anders als Deutschland ist Kanada erst 140 Jahre alt und hat sich immer als größter gemeinsamer Nenner der unterschiedlichsten Einwanderergruppen verstanden. Das waren in den Anfängen vor allem Europäer zumeist christlichen Glaubens. Aber heute können sich auch Einwanderer aus anderen Kulturkreisen mit diesem Land identifizieren. So sind Muslime die am stärksten wachsende Gruppe unter den Neukanadiern. Gerade in Vierteln mit vielen Einwanderern sieht man die kanadische Ahornflagge so oft an Fenstern und Autos, wie man sie bei Berliner Migranten höchstens zur Fußball-WM sah.

Dabei hilft eine selektive kanadische Einwanderungspolitik, die vor allem qualifizierte, leistungswillige Menschen ins Land bringt. Anders als in Deutschland gibt es in Kanada klare Vorstellungen, welche Art von Einwanderern man haben möchte, und es gibt ein strenges Punktesystem, das unter anderem nach Alter und Qualifikation auswählt: Fast 60 Prozent der Einwanderer sind Facharbeiter, Unternehmer oder anderweitig hochqualifiziert und bringen eine entsprechende Bereitschaft mit, sich in die kanadische Gesellschaft einzubringen.

Einige dramatische Ereignisse der letzten Jahre und ein wachsendes Unwohlsein in Teilen der Bevölkerung gegenüber fremden Kulturen haben jetzt eine Frage aufgeworfen, die sich von den Urhebern der Multikulturalismus-Idee niemand gestellt hatte und die auch im Kern der deutschen Debatte steht: Was ist, wenn Einwanderer Werte vertreten, die im Widerspruch zu denen der Mehrheitsgesellschaft stehen, von freier Meinungsäußerung bis zur Gleichberechtigung aller Menschen?

Doch in Kanada hat diese Frage nicht zur Abkehr vom Multikulturalismus geführt wie zum Teil in Deutschland, sondern zu dessen Neudefinition. „Wir haben die zweite Phase des Multikulturalismus erreicht“, sagt Janice Stein, Sozialwissenschaftlerin an der Universität von Toronto und eine der angesehensten Intellektuellen Kanadas. Die neue Herausforderung bestehe darin, dass „eine tief verwurzelte Kultur der individuellen Rechte kulturelle und religiöse Praktiken herausfordert, die unsere Idee von Gleichberechtigung einschränken“.

Ein richtig verstandener Multikulturalismus, das zeigt die kanadische Debatte, stünde auch Deutschland gut an. Sprüche wie „Multikulti ist gescheitert“ mögen griffig klingen – das Bedürfnis vieler Einwanderer nach Anerkennung und Pflege ihrer Herkunftskultur lässt sich damit nicht wegdefinieren.

Es ist Zeit für einen neuen Multikulturalismus in Deutschland. Vorausgesetzt, dass damit eben jener streitbare, ernst gemeinte Pluralismus gemeint ist, der Einwanderern nicht nur einen Rahmen vorgibt, in dem sie ihre Kulturen und Traditionen pflegen können. Sondern der ihnen jede denkbare Hilfe gibt, Deutsch zu lernen und sich zu integrieren, ohne sich gleich vollständig von ihrer Herkunftskultur zu verabschieden. Der sie als Individuen sieht, die zwar oft von einer fremden Kultur geprägt sind, aber dennoch Teil der deutschen Gesellschaft sein wollen. Der sie in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt fördert und ihnen gleiche Chancen einräumt – ob mit Kopftuch und Gebetsteppich oder ohne. Und der ihnen das Gefühl vermittelt, dass es sich für sie lohnt, ein Teil der Gesellschaft ihres adoptierten Heimatlandes zu werden. Der ihnen zugleich aber auch deutlich macht, dass bei Widersprüchen zwischen kulturellen oder religiösen Traditionen und den Prinzipien des liberalen, demokratischen Rechtsstaates im Zweifel die Herkunftskultur das Nachsehen hat.

Die Balance zwischen Grundrechten und kultureller Vielfalt muss ständig neu ausgehandelt werden. Das ist, so besagen die Erfahrungen in Kanada, dem Herkunftsland des Multikulturalismus, Teil eines endlosen Prozesses der Feinjustierung. Als politisches Schlagwort mag „Multikulti“ tatsächlich gescheitert sein. Als Antwort auf die Herausforderungen moderner Einwanderungsgesellschaften hat das Konzept eine Renaissance verdient.

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