zum Hauptinhalt
2009 rätselte Berlin über eine seltsame Plakataktion. Über die Frage, wer genau "ein Volk" ist und wer zu den "anderen" gehört, rätseln die Deutschen ständig.

© dpa

Deutschland und Israel: Wer sind wir eigentlich?

Deutschland und Israel verbindet mehr, als beide Länder gemeinhin glauben. Zum Beispiel leiden sie an derselben Neurose: einer tiefen Krise ihrer Identität. Eine therapeutische Reise.

Von Anna Sauerbrey

Israel, sagt Sam, ist ein neurotisches Land. Alle Juden sind Neurotiker. Ich besonders, ich bin ein New Yorker Jude. Er lacht. Er ist kürzlich ausgewandert, hat sein Beratungsunternehmen in den USA hinter sich gelassen und steht nun auf einer Terrasse über den Dächern von Tel Aviv. Der Abend ist warm, das Mittelmeer liegt in der Luft. Doch seinem in Deutschland politisch sozialisierten Gesprächspartner läuft ein Schauer über den Rücken, das Mitlachen will nicht gelingen, ein pawlowscher Reflex unterdrückt es, eingeübt in Hunderten von Schulstunden und Sonntagsreden. Ein Reflex, der sich mit urdeutscher Zuverlässigkeit immer einstellt, wenn jemand einen Satz mit „alle Juden“ beginnt, selbst dann, wenn derjenige, der den Satz sagt, selbst jüdisch ist und man dem inneren Deutschen sofort zuflüstern kann: Ruhig Blut. Der darf das.

Nichts ist so sensibel wie das Verhältnis der Deutschen zu Israel und zu den Juden. Die enorme publizistische Welle, die das Urteil des Kölner Landgerichts über die Beschneidung ausgelöst hat, hat das erneut deutlich gemacht. Das Thema war ein deutsch-jüdisches und ein deutsch-israelisches, obwohl das Urteil auf den Fall eines muslimischen Jungen zurückgeht. Die Deutschen wurden zu Experten für Betäubungscremes, Schriftauslegung und Kinderschutzrecht, um eine Frage beantworten zu können, die sich bis dato niemand gestellt hatte: Soll man das dürfen? Und: Dürfen wir das nicht wollen? Bald wurde einiges beigemengt, was gar nicht die Juden in Deutschland, sondern den Staat Israel betrifft, aber diese Unterscheidung gelingt bekanntlich nicht jedem: die Gefahr eines israelisch-iranischen Krieges, die deutschen Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien. Mitten hinein beschwor die größte israelische Tageszeitung in einer Titelgeschichte prompt eine Krise der diplomatischen Beziehungen.

Manch unwirschem Zeitgeist ist das Verhältnis schon lange zu vertrackt. Günter Grass hat den Schlachtruf aus den Rechts-außen-Blogs aufgenommen, wo die Meinung herrscht, das müsse man doch jetzt einmal dürfen, ohne kaltes Erschauern einen Satz mit „die Juden“ zu beginnen. Oder zumindest mit „die Israelis“. Dass der Wunsch auf absehbare Zeit nicht erfüllt wird, ist gut so. Wer mit komplizierten Verhältnissen nicht zurechtkommt, sollte sich aus dieser Beziehung heraushalten. Doch wer sich darauf einlässt, kann viel lernen, vor allem über sich selbst. Wer in diesen Tagen als Deutscher durch Israel reist, kommt zu dem Schluss, dass, was die psychologische Verfassung beider Länder angeht, Deutschland und Israel mehr verbindet als trennt. Sam hat recht, Israel ist ein neurotisches Land. Es leidet unter derselben Störung wie Deutschland: einer tiefen Krise seiner Identität.

Verabreden wir uns also zur Gruppentherapie.

Identität, die, -; -en: Das Mittel, mit dem sich der Mensch über die Zeit hinweg Zusammenhang und Konsistenz gibt. Das Gefühl, trotz aller biografischen Wechselfälle dieselbe Person zu bleiben. Das, was das Schulkind und den Greis verbindet: eine schlüssige Icherzählung. Auch Staaten kommen nicht ohne aus. Die Identität eines Landes liefert im besten Fall eine Begründung für seine Existenz und eine Anleitung für politisches Handeln, wenn der Pragmatismus versagt.

Bildergalerie: Affäre um Grass' Israel-Gedicht

Sowohl für Deutschland als auch für Israel ist diese Erzählung die Schoah, die unvergleichliche, menschengemachte Katastrophe, aus der heraus sich beide Staaten erzählen lassen. Nun sterben die letzten Augenzeugen, Opfer wie Täter. Das ist der erste Grund für die gleichzeitige Krise.

Tel Aviv, im September. General Yosef Kuperwasser, Generaldirektor im Israelischen Ministerium für Strategische Angelegenheiten, zerteilt den Raum mit Handkantenschlägen und bellt seine Analyse der Sicherheitslage zwischen den Luftsäulen hindurch: Die Palästinenser? Wollen Israel vom Angesicht der Erde tilgen. Der Iran? Hat dasselbe Ziel. Ägypten? Funktionierte gut, bis der Arabische Frühling alles vermasselte. Und der Westen? „Der Westen ist schwach, seine Ideologie ist die Höflichkeit.“ Keine Hilfe zu erwarten.

Fragt man die Deutschen, was sie mit ihrer Heimat verbindet, ist das, als würde man einen Souvenirladen betreten.

Kuperwasser verkörpert das wehrhafte Israel in Reinform, das sich geschworen hat, nie mehr zum Opfer zu werden. Doch die Erzählung wird brüchig. Zwar hat das Land genügend Feinde. Es muss zur Begründung seiner militärischen Stärke nicht auf die Ur-Katastrophe zurückgreifen. Doch die Erzählung der Schoah ist in ihrer ganzen unfassbaren Wahrheit ungleich überzeugender als die widersprüchlichen, anzweifelbaren Erzählungen der Gegenwartsstrategen. Egal wie laut sie brüllen.

Yad Vashem, ein Nachmittag kurz nach Ferienende. Die Gedenkstätte ist voll mit Schülergruppen. Ein kleines Mädchen steht vor einem der Bildschirme. Die Kamera ist auf das Gesicht einer älteren Frau gerichtet. Sie erzählt, wie sie als Kind eine Massenerschießung überlebte, es bereitet ihr Mühe, sie braucht lange Pausen, doch das Mädchen lauscht gebannt. Wenn sie weitergeht, wird sie gegen Ende noch eine andere Frau sehen, eine der Kämpferinnen im Warschauer Ghetto. Und schließlich wird sie hinaus in die warme Sonne treten, auf einen Balkon mit Blick auf Jerusalem. Ein Erlösungsmotiv, das wirkt. Aber auch das Glas des Bildschirms zwischen dem Mädchen und den Zeitzeuginnen wirkt.

Berlin, Alexanderplatz, am Tag nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Auf die Frage, was sie mit Deutschland verbinde, sagt eine Dame entgeistert: „Ach, du Großer.“ Weitere Antworten: Dichter und Denker, keine Ahnung, Sicherheit, den Wald, die Nordsee, Wohlstand, Sauerkraut. Es ist, als würde man in einen Souvenirladen treten. Nur ein pensionierter Ingenieur holt zu einem Vortrag aus über den deutschen Antisemitismus und die nationalsozialistische Barbarei.

In Deutschland scheint die Erinnerung schneller zu verblassen als in Israel. Das Fußball- WM-Deutschland, der vor Wirtschaftskraft strotzende Chef von Europa, hat die Demutsgeste lange genug eingeübt, um sie jederzeit abrufen zu können. Doch bisweilen wirkt das Neigen des Hauptes mechanisch. Ein paar Kilometer vom Alexanderplatz entfernt, im Deutschen Historischen Museum, gähnt sich ein Geschichtsgrundkurs durch den weitgehend leeren Nationalsozialismus. Die Fotografie eines Mannes, der aus dem Sichtspalt eines Viehwagens schaut, hängt weit oben. Man muss den Opfern hier nicht in die Augen sehen. Wehrhaft wie Israel sollte die deutsche Demokratie sein, um zu verhindern, dass sich Geschichte wiederholt. Doch die Idee verliert sich, je länger sich die Demokratie als stabil erweist.

Eine Ersatzerzählung ist nicht in Sicht. Selbst am Tag nach der Entscheidung über den ESM fällt niemandem das Wort „Europa“ ein, wenn man nach Deutschland fragt. Im Grunde ihres Herzens haben die Deutschen zu Europa keine Beziehung. In der Woche vor der Entscheidung sagten 54 Prozent, sie wünschten sich, dass die ESM-Gegner Recht bekämen, nur 25 Prozent fanden, das Gericht sollte die Anträge abweisen. Nach dem Urteil fanden dann doch gut die Hälfte der Befragten das Urteil richtig. Andere Umfragen zeigen, dass die meisten zwar den Erhalt der Euro-Zone wollen, mehr Integration aber ablehnen.

Vielleicht hängt diese unschlüssige Haltung mit einer anderen deutschen Erzählung zusammen. Fängt man den Rundgang durch das Deutsche Historische Museum ein Stockwerk weiter oben an, begegnet man zuerst Karl dem Großen, in Stein gemeißelt mit Reichsapfel, Zepter, Krone und gütigem Gesichtsausdruck. Unter den Linden, in der mit sanfter Musik untermalten Verdichtung von Geschichte, ist es nur ein kurzer Spaziergang von Karl bis zu den Transparenten der Montagsdemonstranten, mit denen die Ausstellung schließt, von der rein symbolischen Einheit des Reiches, die sich in den Insignien erschöpfte, bis zur echten Einheit der Gegenwart. Man kann das an einem Nachmittag schaffen: Wir sind ein Volk.

"Das Volk" - noch so ein Wort, das dem politisch sensiblen Deutschen kaum über die Lippe geht.

Volk, das; -s. Noch so ein Wort, das dem politisch sensiblen Deutschen kaum über die Lippen ging, das erst mit der Wende etwas Blut-und-Boden-Geschmack verloren hat und auch nur, weil es seine Bedeutung gewandelt hat, nicht länger heißt: Wir sind gleicher Abstammung. Viele Israelis hingegen meinen genau das, wenn sie vom jüdischen Volk sprechen: gleicher Abstammung sein. „Ich glaube, wir können nicht hier sein, ohne uns mit unseren Wurzeln zu identifizieren“, sagt Lea, die in der Siedlung Ofra im Westjordanland lebt, in einem nach Kiefern duftenden Idyll, umgeben von einem hohen Zaun. Ein Ort, von dem sie sagt, dass sie mit ihm durch ein tiefes Heimatgefühl verbunden ist. Und nicht nur mit der Siedlung: Für Israelis wie Lea sind der Staat Israel und das jüdische Volk eine untrennbare Einheit.

So unterschiedliche Akzente die deutsche und die israelische Erzählung von „Einheit“ setzen: Beide drohen zur Lebenslüge zu werden. Das beginnt in Israel damit, dass sich die Säkularen gegen die religiöse Vereinnahmung wehren. „In Jerusalem“, sagt der junge Journalist Attila Somfalvi, „werden Ihnen auf die Frage, wer sie sind, 99 Prozent der Leute sagen, sie sind Juden. In Tel Aviv werden 99 Prozent sagen, sie sind Israelis.“ Aus seiner Sicht vertieft sich die Kluft. Es werde zum „Clash“ kommen, meint er. In seiner Erzählung ist Israel keine Einheit, sondern ein buntes Getümmel aus gläubigen Juden, gemäßigten Orthodoxen, Ultra-Orthodoxen, Atheisten, arabischen Christen und arabischen Muslimen, Beduinen, Drusen, Zuwanderern aus Äthiopien, Russland und dem Westen. Einen gemeinsamen Nenner zu finden ist schwierig. Immerhin, anders als in Deutschland, hat hier jeder eine Vorstellung davon, wie das Land sein soll – wenn auch jeder eine andere als sein Nachbar.

Ein Ort am Jordan, hier soll Christus getauft worden sein. Mitglieder einer christlichen Reisegruppe baden im Fluss, eine der Frauen entsteigt dem Wasser und bekreuzigt sich mehrfach. Eine deutsche Reisegruppe schaut zu, befremdet. Jemand macht einen Witz über den „Wet-T-Shirt-Contest“, ein anderer spekuliert über die Wasserqualität. Zur deutschen Identitätskrise gehört auch die beinahe vollständige Abwesenheit von Religiosität im öffentlichen Leben. Noch sind in Westdeutschland etwa zwei Drittel Mitglied einer christlichen Kirche, im Osten 25 Prozent. Somfalvis „Clash“ könnte dennoch oder gerade deswegen auch den Deutschen bevorstehen. Je religiöser eine Minderheit ist, desto schwerer wird sie es haben. Davon erzählt die Beschneidungsdebatte ebenso wie der Kopftuchstreit.

Und Deutschland besteht schließlich zunehmend aus sogenannten Minderheiten, oder, schöner: Es ist nicht weniger als Israel ein Land der „Bindestrich-Identitäten“. Das Wort findet sich in dem jüngst erschienenen Buch der drei „Zeit“-Journalistinnen Özlem Topçu, Alice Bota und Khuê Pham. Titel: „Wir neuen Deutschen“. Über das Wort Migrationshintergrund schreiben sie: „Das Wort verrät sich selbst: Es versucht eine Definition, die offenbart, wie vage das Konzept von Deutsch-Sein und Nicht-deutsch-Sein ist.“

Diese neue Identitätsvielfalt geht nicht ohne Angstkomplex ab, weder in Israel noch in Deutschland. In beiden Ländern ist die Furcht, die eigene Gruppe könnte Rechte einbüßen oder, schlimmer noch, zur Minderheit werden, verbreitet. General Kuperwasser sieht das so: Wenn sich die demografische Entwicklung in der arabischen Bevölkerung fortsetzt, wird sie die jüdische Bevölkerung bald zahlenmäßig überholen. „Ihre Zahl wächst und sie wird immer weiter wachsen“, hämmert er. Ganz abgesehen davon, ob das stimmt: Sarrazin würde der alte Haudegen gefallen. Sie sollten zusammen auf Tour gehen, mit ihrer Exodus-Show. Dass sie Gehör finden, die Sarrazins und Kuperwassers, ist auch so ein Symptom.

Vielleicht sind am Ende eben jene Museen mit schuld an unseren Komplexen, die für die Erzählung unserer Identitäten gleichzeitig so wichtig sind. Jeder Rundgang ist zwangsläufig teleologisch, scheint ein unausweichliches Ziel zu haben. Doch jeder Versuch, die nationale Erzählung in die Vitrine zu stellen, sie vor zu viel Außeneinwirkung zu schützen, muss schiefgehen. Kaum ist man fertig und betrachtet das ausgestopfte Tier Identität, wird man feststellen, das es die Augen bewegt und sich umschaut.

Die Autorin ist Mitarbeiterin der Meinungsredaktion. Sie ist im Rahmen von "Project Interchange", einem Bildungsprogramm des American Jewish Committee, eine Woche lang durch Israel gereist.

Zur Startseite