zum Hauptinhalt
Raus aus der Kälte. Für viele Flüchtlinge werden jetzt neue Heime gebaut.

© dpa

Deutschlands Zukunft: Auf die Energiewende muss eine Bildungswende folgen

Wie der Staat mit dem Überschuss im Haushalt klug gegen Ressentiments wirtschaften kann. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Allerhand Wunschsummen schwirren durch den politischen Äther, Millionen hier, Milliarden dort. Kommunen, Gemeinden, Bürgermeister fordern mehr Geld vom Bund, vom Staat. Von allen Seiten wird das schöne Rund der schwarzen Null attackiert, beklopft, zerbeult.

Schuld sind vor allem die Flüchtlinge, wer sonst? Gerade waren wir so gut bei Kasse, da kommen die Fremden daher. Gerade hatte man sich zu Tisch um die reichhaltige Suppe versammelt, da wollen andere mitessen. Unterkünfte für Asylsuchende, Honorare für Dolmetscher, Integrationskurse, medizinische Versorgung. Was das kostet! Ein Glück, dass Überschüsse da sind (und dass viele Einheimische gut an der aktuellen Mobilität verdienen). Seit einem Vierteljahrhundert, das rechnet das Statistische Bundesamt vor, gab es kein derart großes Plus auf dem Konto der Republik. 19,4 Milliarden Euro mehr eingenommen als ausgegeben haben Bund, Länder, Gemeinden und Sozialkassen im Jahr 2015, in absoluten Zahlen mehr als das Doppelte des Vorjahres.

Zweihundert Euro allein für Nachhilfe in Mathe!

Und nun soll Wasser in die Suppe gekippt werden, damit sie für die Flüchtlinge reicht? Allein die Vorstellung, Neuankömmlinge würden das deutsche Sparschwein schlachten, schürt solche Ressentiments. Überschuss auf der einen, Bedarf auf der anderen Seite bieten jedoch Gelegenheit gegenzusteuern und neben Integrationspaketen längst fällige Reformen zu erwägen, die allen nutzen, Armut flächendeckend reduzieren und toxische Rivalitäten am unteren Rand der Gesellschaft verhindern.

Auf die Energiewende muss eine Bildungswende folgen. Flickenteppichhaft und halbherzig wurde sie bisher angegangen. Im Sommer 2008 hatte die Kanzlerin eine „Bildungsrepublik Deutschland“ versprochen, die „jedem die Chance auf Einstieg und Aufstieg“ ermöglicht. „Wohlstand für alle“, sagte sie, „heißt heute und morgen: Bildung für alle.“ Alle meint alle. Und das kostet: Konzepte und Personal, Zeit und Geld. „Unser Sohn ist teuer“, seufzte unlängst im Freundeskreis ein mittelständisches Berliner Paar. Zweihundert Euro allein für Nachhilfe in Mathe! Dazu Saxofonunterricht, Karate im Sportverein, Essen aus dem Bioladen, Monatskarte für die U-Bahn. An die achthundert Euro kommen im Monat zusammen.

Millionen andere können nicht so tief in die Tasche greifen. Ihre Kinder sind bisher auf Glück und Zufall angewiesen, etwa wenn sie eine Schule besuchen, die gratis Förderstunden anbietet, oder wenn sie auf einen Lehrer oder Sozialarbeiter treffen, der Interesse an der Entwicklung eines Kindes hat, der ihnen Bücher ausleiht und sich Zeit für Gespräche nimmt. Aussichten auf „Einstieg und Aufstieg“, wie Angela Merkel sie vor acht Jahren versprochen hat, verteilen sich in zahlungsschwachen Schichten noch immer nach dem Prinzip einer Lotterie.

In Norwegen gibt es einmal in der Woche gratis Obst an den Schulen

Solange Herkunftsmilieus die Chancen von Kindern erheblich mitbestimmen, wie die OECD für Deutschland konstatiert, gedeihen Plantagen voller Ressentiments. Solange nämlich dominiert strukturelle Segregation die Gesellschaft, und solange geht es darum, das zu verändern. Alle Kinder in Kitas wirksam zu fördern, würde nach Schätzung der OECD neun Milliarden Euro im Jahr kosten. Machbar wäre das. Auch landesweite, kostenfreie Schulspeisung ist machbar. Standard ist sie in Staaten wie Schweden, Finnland, Estland und Tschechien, in Finnland, zeitweise ein Pisa-Superwunder, sogar seit 1948. In Norwegen gibt es zumindest einmal in der Woche gratis Obst an den Schulen. Ebenso ist kostenfreier Nachhilfeunterricht in vielen westlichen Ländern Praxis.

Realtransfers nennen Soziologen solche Leistungen, deren Vorteil gegenüber finanziellen Transferleistungen enorm groß ist. Die Zweckentfremdung der Mittel ist unmöglich, sie entfalten ihre Wirkung genau da, wo sie gebraucht werden, wobei ihr präventiver und produktiver Nutzen für den sozialen Frieden bei Weitem die Summen übersteigt, die investiert werden müssen. Da kann auch der Gedanke nicht länger als ketzerisch gelten, dass die oberen zehn, zwanzig Prozent der Gesellschaft aufs Kindergeld verzichten könnten.

Utopien? Der Ausstieg aus der Atomkraft war eine grüne Utopie, für die Funktionseliten des Landes unvorstellbar, grotesk, unbezahlbar. Auf den Weg gebracht hat ihn schließlich – nach Fukushima – die von einer CDU-Kanzlerin geführte Regierung. Den Einstieg in die Bildungsrepublik der Chancengerechtigkeit hat dieselbe Kanzlerin vor Jahren versprochen. Unvorstellbar, unbezahlbar? Ein soziales Fukushima abzuwarten, wäre das ungleich größere Risiko.

Zur Startseite