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Meinung: Die Befreiung der Mitte

Der Herbst 1989 war keine deutsche Revolution, sondern eine europäische Volkserhebung

Ein irritierendes Kontrastprogramm durchzieht diesen Herbst: großer Zorn und tiefe Rührung. Alle paar Tage werden die Blicke zurückgelenkt auf die wundersame Wende vor 15 Jahren. Sie hatte in Polen begonnen, wo die Solidarnosc bei den Verhandlungen am runden Tisch den friedlichen Machtwechsel durchsetzte. Im August folgten die Bilder von der Flucht tausender DDR-Bürger über Ungarn in den Westen, am 10. September öffnete Budapest endgültig die Grenzen und brach so den entscheidenden Stein aus der Berliner Mauer. Bald darauf rückte der von Campern überfüllte Garten der deutschen Botschaft in Prag in den Mittelpunkt und Hans-Dietrich Genscher im abendlichen Dunkel auf dem von Scheinwerfern erleuchteten Balkon. Sein Satz „Ich bin heute Abend zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen …“ ging im befreiten Jubel unter.

All diese Bilder und Erinnerungen streben seit Wochen auf das Datum hin: den Mauerfall am 9. November. Kurz darauf folgen der Umsturz in Bulgarien, die samtene Revolution in Prag und die blutige in Rumänien. Der Ablauf müsste in Erinnerung rufen, was der Herbst 1989 eigentlich war: eine große europäische Volkserhebung, keine rein deutsche – die Selbstbefreiung Mitteleuropas.

Keiner, der die Bilder von damals sieht, wird gefühllos bleiben. Schauer laufen nicht nur den Deutschen über den Rücken, Tränen fließen. Diese Bilder sind mächtig.

Die andere Seite dieses Herbstes, das sind Ohnmacht, Enttäuschung und Mutlosigkeit. Die neuen Montagsdemonstrationen, die im Sande verlaufen, der Protest gegen den Arbeitsplatzabbau bei Opel, Karstadt, Siemens in West und Ost. Wo ist der Zauber von damals geblieben, die Euphorie, das Gefühl, glücklich entronnen zu sein? Und der Glaube an die Zukunft, dem Bill Clinton wenig später in Berlin so unnachahmlich Ausdruck gab: „Alles ist möglich. Berlin ist frei!“

Anderswo in Mitteleuropa ist die Stimmung nicht viel besser. In Polen sind viele Bürger verbittert über schlecht umgesetzte Reformen. In Ungarn musste soeben der Premierminister ausgetauscht werden. Ob Tschechien oder das Baltikum, überall ist die Stimmung gedrückt. Dabei geht es den meisten Menschen um Längen besser als in der kommunistischen Diktatur.

Ebenso auffallend ist, wo immer man hinschaut, die Nabelschau. 1989 war ein zutiefst europäisches Jahr. Kein Land hätte sich alleine und isoliert aus dem Sowjetimperium verabschieden können. Das ging nur gemeinsam. Die Erinnerung im halbrunden 15. Jubiläumsjahr aber ist vor allem national – obwohl 2004 zugleich das Jahr der EU-Erweiterung ist: der Vollendung der Wiedervereinigung Mitteleuropas. Der friedliche Sturz der SED-Diktatur wird in den deutschen Medien vor allem als gelungene deutsche Revolution dargeboten. Schon vergessen, dass dies alles in Polen und Ungarn anfing, dass der Mauerfall ohne Solidarnosc und Budapests Grenzöffnung undenkbar gewesen wäre? Vergessen auch, dass es kein Zufall war, dass Kanzler Kohl den Mauerfall am 9. November in Warschau erlebte und seine Polenreise deshalb unterbrechen musste? Er besuchte den ersten nichtkommunistischen Regierungschef im untergehenden Ostblock, Tadeusz Mazowiecki. Einige Monate später war Lech Walesa Staatspräsident.

Gewiss, man kann diese Selbstbezogenheit zu erklären versuchen. Die westdeutschen Opel-Arbeiter in Bochum und Rüsselsheim, die ostdeutschen in Eisenach und die polnischen in Gleiwitz sehen sich heute in der Krise als Konkurrenten. Ebenso die deutschen Siemens-Techniker und die ungarischen Handybauer. Wo wird es künftig noch Jobs geben? Kann man den eigenen nur um den Preis des sozialen Abstiegs retten? Und wer will schon gerne mit den Mühen von damals behelligt werden – Stasi, keine Reisefreiheit, schlechte Versorgungslage –, nur um sich heute besser zu fühlen?

Vielleicht aber fehlt uns allen gerade diese gemeinsame Erinnerung an 1989 – als Fundament eines europäischen Bewusstseins in der erweiterten EU. Vielleicht wäre sie die beste Arznei gegen die nationale Melancholie in Mitteleuropa im Herbst 2004: sich immer wieder die Bilder von 1989 ansehen; begreifen, dass wir nur deshalb über die Probleme von heute klagen können, weil wir uns damals gemeinsam befreit haben – Polen, Ungarn, Deutsche, Tschechen und viele mehr. Und dankbar sein, dass wir so gnädig davon gekommen sind nach dem blutigen 20. Jahrhundert. Mal ganz im Ernst: In die Zeit vor 1989 will doch niemand zurück.

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