zum Hauptinhalt

Meinung: Die Botschaft der Robben

Ihr Massentod ist alarmierend – auch für den Menschen

Von Alexander S. Kekulé

WAS WISSEN SCHAFFT

Der Tod kam ohne Vorwarnung, aus dem kalten Norden. Auf der Insel Anholt im dänischen Kattegat wurden über 50 Kadaver von Seehunden angeschwemmt. Kurz darauf verendeten 22 weitere Tiere am Strand der 42 Seemeilen entfernten Insel Læsø, ein Seehund trieb leblos im Hafen von Skagen – das war Ende Mai. Jetzt erreichte die Seuche die deutsche Nordseeküste. Über 2300 Tiere sind gestorben, Experten rechnen mit bis zu 10.000 Opfern.

Als Ursache des Massensterbens wurde inzwischen das Seehund-Staupevirus (phocine distemper virus) identifiziert, das mit den Erregern der Staupe beim Hund und der Masern beim Menschen verwandt ist. Bei Seehunden verursacht es zunächst Schnupfen und tränende Augen, dann wird die Lunge angegriffen. Die niesenden und hustenden Tiere verfallen innerhalb weniger Tage, schließlich kommen Muskelkrämpfe und neurologische Störungen hinzu. Bei verendeten Seehunden lässt sich der Erreger praktisch in allen Organen nachweisen: Gehirn, Lunge, Leber, Milz, Darm und Lymphsystem sind mit Viren überschwemmt.

Die Seuche schlägt derzeit zum zweiten Mal in der Nordsee zu: Bereits 1988 hatte das Seehund-Staupevirus über 17.000 der Meeressäuger getötet, davon rund 8600 im Wattenmeer - 60 Prozent des damaligen Bestandes. Wegen dieser ungehemmten Ausbreitung steht für viele Wattenmeer-Schützer fest: Umweltgifte wie Schwermetalle, PCBs (polychlorierte Biphenyle) oder bromierte Flammschutzmittel müssen das Immunsystem der Seehunde geschädigt haben. Sie fordern drastische Maßnahmen, um die Vergiftung der Nordsee endlich zu stoppen.

Die Forderung ist ohne Zweifel berechtigt, das Robben-Argument steht aber auf tönernen Füssen. Zwar lassen sich im Fett der Fischfresser zahlreiche Giftstoffe nachweisen. Jedoch ist eine erhöhte Anfälligkeit für Virusinfektionen weder bewiesen noch sehr wahrscheinlich: Seit der ersten Staupe-Epidemie wurden die Tiere akribisch überwacht wie Privatpatienten auf der Intensivstation; ihr Gesundheitszustand war zuletzt hervorragend, alleine die Wattenmeer-Population wuchs auf die Rekordzahl von 20.000.

Anders als in den 70er Jahren, als Pelzjäger die Flossenfüßler auf knapp 4.000 Exemplare dezimiert hatten, scheint diesmal der Mensch am Leid der Kreatur unschuldig zu sein: Die Seehunde der Nordsee haben seit der Epidemie vor 14 Jahren schlicht ihren Immunschutz verloren. Die Staupe wurde wahrscheinlich von arktischen Sattelrobben eingeschleppt, bei denen sie als harmlose Kinderkrankheit verbreitet ist.

Das Robbensterben beunruhigt neuerdings auch die Humanmediziner: Es zeigt, welche Auswirkungen ein bioterroristischer Anschlag oder das Überspringen eines tierischen Virus auf den Menschen haben könnte. Dass scheinbar harmlose Erreger ohne Immunschutz auch beim Menschen verheerende Auswirkungen haben, zeigte sich bereits 1846 auf den abgelegenen Faröer-Inseln. Damals erkrankten mehr als 6000 der 7782 Inselbewohner an einer dort nicht vorkommenden Seuche, viele Menschen starben – ein Tischler aus Kopenhagen hatte die Masern eingeschleppt.

Der Autor ist Direktor des Instituts für Mikrobiologie an der Universität Halle.Foto:J. Peyer

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false