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Meinung: Die Fatwa schreibt der Staat Von Thomas Seibert

Mit einem Besuch im orthodoxen Patriarchat von Istanbul will Bundeskanzler Gerhard Schröder an diesem Mittwoch auf die Probleme der Christen in der Türkei hinweisen. Damit berührt Schröder einen neuralgischen Punkt der türkischen EUBewerbung: Der türkische Staat betrachtet die religiösen Überzeugungen seiner Bürger als potenzielle Gefahrenherde, die unbedingt unter strikter Kontrolle gehalten werden müssen.

Mit einem Besuch im orthodoxen Patriarchat von Istanbul will Bundeskanzler Gerhard Schröder an diesem Mittwoch auf die Probleme der Christen in der Türkei hinweisen. Damit berührt Schröder einen neuralgischen Punkt der türkischen EUBewerbung: Der türkische Staat betrachtet die religiösen Überzeugungen seiner Bürger als potenzielle Gefahrenherde, die unbedingt unter strikter Kontrolle gehalten werden müssen. In kaum einem anderen Bereich ist die Türkei so weit von der Durchsetzung europäischer Normen entfernt wie bei der Religionsfreiheit.

Die christlichen Minderheiten in der Türkei sind trotz aller Reformen der letzten Jahre stark benachteiligt. Das Ökumenische Patriarchat in Istanbul, das der deutsche Kanzler besuchen will, ist das spirituelle Zentrum von weltweit 330 Millionen orthodoxen Christen – aber in der Türkei hat es weniger Rechte als ein Fußballverein.

Schuld daran ist nicht nur das anhaltende Misstrauen des Staates gegen die Christen, die oft als mögliche Agenten des Auslandes betrachtet werden. Dem türkischen Staat sind sogar die Muslime im Lande suspekt, und das sind immerhin 99 Prozent der Bevölkerung. Der Staat versucht nach Kräften, den Islam zu kontrollieren. Das staatliche Religionsamt in Ankara – eine der größen Behörden der Türkei – ernennt und bezahlt die Imame in den Moscheen, schreibt Musterpredigten, und gibt Fatwas heraus.

Die institutionalisierte Angst des Staates vor dem Islam hat auch negative Folgen für die Christen. So wird Schröder in Istanbul die Wiedereröffnung einer seit fast 35 Jahren geschlossenen orthodoxen Priesterschule fordern. Doch wenn dies den Christen erlaubt würde, müssten auch nichtstaatliche Schulen für die Muslime zugelassen werden. Für die islamisch geprägte Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wäre das kein Problem – wohl aber für die Militärs und andere Mitglieder der laizistischen Elite, die Erdogan misstrauisch beobachten. Auf diesem Weg kommt die Türkei nicht weiter: Sie muss das Verhältnis zwischen Staat und Religion ganz neu ordnen, wenn sie der Europäischen Union beitreten will.

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