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Meinung: Die Masse das Fürchten gelehrt

Der Amokläufer von Berlin ließ alles raus, war ein Mal der Starke Von Reinhard Mohr

Als am vergangenen Freitagabend Hunderttausende in Richtung neuer Hauptbahnhof zogen, eine Menschenmasse, wie ich sie seit den Zeiten der großen Brokdorf-Demonstrationen nicht mehr gesehen hatte, erwachte für einen gefühlten Augenblick der alte Revolutionär in mir. „Was hätte man früher daraus gemacht?“, sagte ich ein bisschen euphorisch zu meinen Freunden aus der Karl-Marx-Allee.

Ja gewiss, die Massen waren da. Wunderbar. Aber keine Spur von Revolution. Doch seien wir ehrlich: Man wüsste auch gar nicht recht, welche Revolution genau? Und wer sollte wohl ihr Anführer sein? Danton Friedbert gegen König Wowi I. ? Stattdessen wollten die politisch ziellosen Volksmassen auf gut Berlinisch nur mal „kieken“ gehen, den schönen Augenblick mit Lichtspektakel und Feuerwerk genießen. Und es war ja tatsächlich das ganze Volk erschienen, die Blondine aus’m Wedding ebenso wie der Geschäftsmann aus Charlottenburg. Doch die Blicke auf die riesige Menschenmasse im nächtlichen Dunkel, das nur vom Sternenschweif der Raketen erhellt wurde, ließen auch andere Gedanken aufkommen.

Nicht erst seit Elias Canettis großem Essay über „Masse und Macht“ wissen wir, welche physischen und psychischen Energien in Menschenansammlungen hausen. Da gibt es zum Beispiel die Jagd- und Hetzmeute, Zusammenrottungen gegen Einzelne, die klassische Kernstruktur von Pogromen. Es gibt Verfolgung und Flucht, Angst und Panik. Der Einzelne als Opfer der Masse, die plötzlich ihre Macht spürt.

In Deutschland ließ sie sich gerne von einem Führer zeigen, wohin sie marschieren soll. Und gegen wen. Heute kennt gottlob niemand mehr die Richtung, weder Revolutionäre noch Reaktionäre. Die Masse ist so ratlos wie die demokratisch gewählte Elite.

In diesem Moment tritt der Einzelne als Täter auf die Bühne. Er nutzt den gesellschaftlichen Hohlraum als Freiraum. Er ist kein Revolutionär, nicht einmal ein Michael Kohlhaas, weder ein Rächer der Enterbten, noch ein wirklicher Märtyrer, auch kein Propagandist der Tat wie die russischen Anarchisten vor hundert Jahren. Im schlimmsten Fall muss er anschließend zur Beichte bei „Kerner“ oder „Beckmann“. Er ist ein Beleidigter, ein „Verlierer“, wie Hans Magnus Enzensberger sagt.

So hat auch der 16-jährige Amokläufer von Freitagnacht durch seine Tat sein eigenes Leben weitgehend zerstört, was immer noch an Details über die Umstände herauskommen mag. Eins aber hat er erreicht: der Masse Angst und Schrecken einzujagen. Ein Mal war er der Starke, auch wenn der Alkohol dabei half. Er, der von seiner Familie als liebevoller Junge geschildert wird, hat einmal alles rausgelassen, die Druckventile der psychischen Binnenstabilisierung geöffnet, ohne Rücksicht auf Verluste.

Mehr noch: Durch die mögliche Ansteckung seiner Opfer mit HIV hat er einen panischen Vorstellungsraum geöffnet: Was wäre, wenn während der WM jemand mit einer bakteriell verseuchten Spritze durch die Menschenmenge läuft? Hier würde die Masse zur Geisel des Einzelnen, eine glatte Umkehrung der traditionellen Machtverhältnisse.

Bei all dem geht es nicht allein um den Verlust verbindlicher moralischer Werte. Das auch. Aber darunter (oder darüber) liegt noch eine andere Schicht: die Ohnmacht des Individuums in einer hoch differenzierten Gesellschaft mit ihren zahllosen Wechselwirkungen und undurchschaubaren Zusammenhängen. Oft genug ist das Ergebnis: Blockade und Ohnmacht. Nichts geht mehr. Nicht nur in der großen Koalition, sondern auch im Alltag, im ganz normalen Leben.

Die Masse, ob als Arbeiterklasse oder „Volksgemeinschaft“, bietet keinen Schutz mehr, keine Projektionsfläche zur gefälligen Identifikation. Immer ungebremster bestürmen die Widersprüche und Absurditäten der globalisierten Welt das Subjekt, das sich selbst nicht findet. Die Dialektik der Aufklärung tut weh. Wer aufmerksam quer durch Berlin radelt, kann die einsamen Selbstgespräche und lauten Schreie der Amokläufer von morgen schon hören.

Der Autor lebt als freier Publizist in Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Das Deutschlandgefühl“ (Rowohlt-Verlag).

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