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Meinung: Die Mauer heute: Tief in der Substanz der Deutschen

Wer weiß noch genau, wo sie verlief? Wer hat nicht schon Probleme, sich vorzustellen, dass es sie wirklich gegeben hat?

Wer weiß noch genau, wo sie verlief? Wer hat nicht schon Probleme, sich vorzustellen, dass es sie wirklich gegeben hat? An diesem 40. Jahrestag der Errichtung der Mauer herrscht kein Mangel an Erinnerungen an dieses monströse Bauwerk, aber es ist offenkundig, dass es Vergangenheit geworden ist. Immer seltener werden die Spuren, die seine Existenz bezeugen. Selbst die Zeitgenossen tun sich mit der Erinnerung schwer, ganz zu schweigen von denen, die die Mauer nicht mehr erlebt haben. Doch was heißt hier: nicht mehr existent? Sie ist eine deutsche Vergangenheit, die ihre unausweichliche, unbequeme Realität in der Gegenwart des vereinigten Landes behält.

Zum Thema Online Spezial: 40 Jahre Mauerbau Fotostrecke: Die Mauer in Bildern Aber kann das verwundern? Deutschland war zwar schon geteilt, als die DDR-Staatsmacht an jenem Sonntag im August 1961 zuschlug, aber kein anderes Ereignis - nicht die Gründung der zwei Staaten, nicht das Scheitern diverser Konferenzen, nicht der diktatorische SED-Sozialismus - hat die Teilung so tief in die Substanz der Deutschen hineingetrieben. Nichts hat auch so an ihrer Gemeinsamkeit gezehrt wie das Leben mit ihr. Im Osten drei Jahrzehnte lang die Eingeschlossenen eines rechthaberischen Systems, im Westen Kleindeutsche auf hohem Konsum-Niveau, gerade noch fähig zu den bekannten Kleine-Schritte-Exerzitien - das wirkt nach. Und was hätte je eine Stadt so auf ein Folterbett gespannt wie der bis dahin unvorstellbare Schritt, Berlin mit einer Mauer in seiner Mitte zu zerschneiden?

Deshalb ist es in gewisser Weise noch immer die Mauer, die - trotz ihres Fast-Verschwindens hinter dem Horizont der Gegenwart - den Deutschen von heute die Aufgaben aufgibt, an denen sie sich zu bewähren haben. Genauer: Es ist die Mauer-Zeit, die Lebenszeit einer ganzen Generation, das Geschichts-Kapitel, das den größeren Teil der Nachkriegszeit umfasst. Die Kennworte dafür sind, zugegeben, so ausgeleiert und abgedroschen, wie es einst die alljährlichen Die-Mauer-muss-weg-Rituale waren: die Mauer in den Köpfen, die abgebaut, die innere Einheit, die hergestellt werden muss. Aber das ändert nichts daran, dass sie in der Essenz Recht haben. An der Verwirklichung des Versprechens, das die staatliche Wiedervereinigung darstellte, führt im Alltag dieser Republik kein Weg vorbei.

Auch dafür setzt die Zäsur des Mauerbaus ein Zeichen. Denn diese Perspektive heißt doch nichts anderes, als dass wir in Deutschland einen Zustand erreichen, in dem Ost- und Westdeutsche auf gleicher Augenhöhe miteinander umgehen - nicht mehr "Wessis" und "Ossis", die wirklichen blühenden Landschaften da, Mezzogiorno dort, und im deutschen Fußball wären, zum Beispiel, die Kicker in Sachsen oder Mecklenburg nicht mehr auf die Rolle der Kellerkinder und Talentspender abonniert. Das aber meint die Wiedergewinnung, ja, die Wiederherstellung des gemeinsamen Lebens, das heute vor 40 Jahren mit dem Akt des Mauerbaus brutal beendet wurde.

Und deshalb braucht sich niemand zu beklagen, wenn ihm zu diesem Jahrestag abverlangt wird, Stellung zu beziehen, am wenigsten die PDS. Denn das Verhältnis zur Mauer bleibt eine Probe auf die elementaren Prinzipien der Politik. Alle Erklärungen für den Mauerbau können ja nicht davon ablenken, dass er ein Skandalon bleibt. Denn nichts kann rechtfertigen, Menschen durch Gewalt daran zu hindern, ihr Leben so zu leben, wie sie es wollen, dorthin zu gehen, wohin sie wollen - keine Absicht der Menschheitsbeglückung, nicht einmal der Anspruch eines Staates auf seine Souveränität. Im Mauerbau trat die Staatsräson der DDR zu Tage, nackt und brachial. Eine Partei, die sich nach diesem erbärmlichen Exempel noch immer nicht von dem Gespinst von Sozialismus-Verheißung und DDR-Beschönigung gelöst hat, bleibt im Zwielicht, so pragmatisch sie sich im Alltag gibt. Und die Parteien, die dreißig Jahre im Konsensus die Mauer beklagt und angeklagt haben? Sie tun gut daran, auf Berührungsängste zu einer solchen Partei Wert zu legen anstatt sie zu verdrängen. Sie sind schlecht beraten, die Erinnerung an die Mauer wahlkampftauglich aufzuzäumen.

Die Mauer: Das ist heute, 40 Jahre danach, Erinnerungsarbeit. Aber ihre Wirkungsgeschichte ist noch nicht am Ende. Ihr Vermächtnis noch nicht eingelöst.

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