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Meinung: „Die neue Zeit Boliviens bricht an“

Er ist der erste. Nach dem Sieg des Indios Evo Morales bei der Präsidentschaftswahl in Bolivien steht erstmals ein Ureinwohner an der Spitze des krisengeschüttelten Andenstaates.

Von Michael Schmidt

Er ist der erste. Nach dem Sieg des Indios Evo Morales bei der Präsidentschaftswahl in Bolivien steht erstmals ein Ureinwohner an der Spitze des krisengeschüttelten Andenstaates. Ein Sozialist, Gewerkschaftsführer, Kokabauer. Ein Straßenblockierer, Aufrührer und Bewunderer Che Guevaras. Kurz: Ein Rächer der Enterbten, der sich selbst den Kandidaten der von der Geschichte Verschmähten, der Verachteten und Diskriminierten nennt. Der 46-Jährige setzte sich klar gegen den früheren Staatschef Jorge Quiroga durch.

Geboren wurde der aus einer bitterarmen Bauernfamilie von Aymara- und Quechua-Indianern stammende Morales 1959 im südlichen Andenhochland. Von seinen sechs Geschwistern starben vier im Säuglingsalter. Er half, die Lamas der Familie zu hüten und Kartoffeln zu ernten, spielte in einer Wandertruppe Trompete und brach die Oberschule ab. Mit dem Spanischen hat er bis heute Schwierigkeiten. Als er 19 war, zog die Familie nach Chapare. Dort wurde er Cocalero und 1993 Präsident der örtlichen Kokabauernvereinigung.

Politisch steht er für zweierlei: die Verstaatlichung der Erdöl- und Erdgasreserven – und das Recht auf Anbau und Handel mit der Kokapflanze. Beides stößt die Amerikaner vor den Kopf – und in Washington deshalb auf wenig Gegenliebe. Die USA verfolgen in Bolivien eine „Null-Drogen“-Politik und haben mit der Regierung in La Paz ein Abkommen zur Zerstörung von Kokapflanzungen geschlossen. Bei Morales’ Pressekonferenzen aber sind stets Kokablätter als Dekoration ausgelegt. „Wenn die USA Beziehungen mit uns wollen, ist uns das willkommen“, sagt er. Aber Bolivien werde sich den USA nicht länger unterwerfen.

Wenig deutet darauf hin, dass Morales sich im Regierungspalast sicherer fühlen kann als seine durch Massenproteste aus dem Amt gejagten Vorgänger. Zwar verkörpert er die Aspirationen der indigenen Mehrheit, aber wenn er nicht schnell Erfolge vorzuweisen hat – und die Erwartungen sind so riesig wie widersprüchlich – dann wird auch er den Druck der Straße zu spüren bekommen.

In einem Land, in dem Kompromiss ein anderes Wort für Schwäche ist, nimmt es sich daher als ein besonders bemerkenswertes Hoffnungszeichen aus, dass sein Konkurrent Quiroga ihm öffentlich gratulierte und sagte, er wolle die Differenzen der Vergangenheit hinter sich lassen und den Blick auf eine „friedliche und harmonische Zukunft richten“. Am 22. Januar ist Amtsantritt.

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