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Ein SPRUCH: Die neuen Gestörten

Ob der freie Wille wirklich immer frei ist, darüber mögen Philosophen streiten, im Strafrecht schnurrt die Menschheitsfrage auf zwei Paragrafen zusammen; es sind jene, nach denen die Schuldfähigkeit des Täters beurteilt wird. Alkohol, Affekt, Psychosen, Schwachsinn, all dies kann eine Rolle spielen, auch „seelische Abartigkeit“, so formuliert es das Gesetz, wie Triebstörungen.

Ob der freie Wille wirklich immer frei ist, darüber mögen Philosophen streiten, im Strafrecht schnurrt die Menschheitsfrage auf zwei Paragrafen zusammen; es sind jene, nach denen die Schuldfähigkeit des Täters beurteilt wird. Alkohol, Affekt, Psychosen, Schwachsinn, all dies kann eine Rolle spielen, auch „seelische Abartigkeit“, so formuliert es das Gesetz, wie Triebstörungen. Sexualtäter, die nicht mehr Herr ihres Willens waren, kamen in die Psychiatrie, für andere gab es die Haft, und wenn darüber hinaus ein Rückfall drohte, die Sicherungsverwahrung.

Seit Donnerstag ist klar, dass es künftig eine dritte Kategorie neben Kranken und Verwahrten gibt: die Gestörten. Das Bundesverfassungsgericht hat über einen Missbrauchstäter geurteilt, der sich an Kindern vergangen hatte und nach der Haft in Sicherungsverwahrung blieb. Er wollte freikommen, weil der Wegfall der ursprünglichen Maximaldauer von zehn Jahren nach einem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs gegen das Verbot rückwirkender Strafe verstieß. In Karlsruhe gab man ihm recht. Doch frei kommt er wohl nicht. Nun, so die Richter, soll geprüft werden, ob er, der Schuldfähige, nicht trotzdem „psychisch gestört“ ist. Denn für Fälle wie ihn gibt es seit kurzem ein neues Gesetz, angepasst an die Europäische Menschenrechtskonvention, das die Regierung extra auf den Weg gebracht hatte, um aufgrund des europäischen Urteils Entlassene wieder einfangen zu können.

Diese Strategie genießt jetzt höchsten Schutz aus Karlsruhe. Die Gestörten, meinen die Richter, müssten nicht so gestört sein, dass ihre Schuldfähigkeit infrage steht. Bei einer „antisozialen Persönlichkeitsstörung“ sei bereits entscheidend, wie die Lebensführung „in sozialer und ethischer Hinsicht“ beeinträchtigt sei, auch durch Straftaten. Von der Tat ließe sich folglich auf den Täter schließen: Wer Abartiges tut, muss gestört sein. Dass dem nicht so sein muss, lässt sich an Menschen wie Anders Breivik studieren. Besteht bei den Gestörten die Gefahr neuer Straftaten, ist dem rückwirkenden Zugriff auf Täter künftig legal und europarechtskonform Tür und Tor geöffnet.

Man kann das angesichts der Ängste und des Sicherheitsbedarfs in der Bevölkerung begrüßen. Es kündigt sich damit aber auch ein Wandel im Verständnis von Strafe und Schuld an. Ob und wie einer für eine Tat verantwortlich gemacht werden kann oder nicht, ist vor Gericht bislang eine aufwendige Untersuchung, die Entscheidungen müssen sensibel getroffen werden. Die neue Kategorie des „Gestörten“ ist dagegen eine grobe, zudem anfällig für Laienpsychiatrie. Die Verwahrten, die eigentlich freigelassen werden müssen, können nun zu Gestörten umdeklariert werden – mehr ein Trick als eine rechtsstaatlich saubere Lösung. Und in Karlsruhe, wo man sich dem EGMR ungern gebeugt hatte, trickst man mit.

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