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Die Deutschen und die Schweiz, eine Hassliebe.

© dpa

Die Schweiz als Vorbild für Deutschland: Es ist nicht alles Käse

Eine deutliche Mehrheit wünscht sich eine große Koalition. Vielleicht sollte Deutschland auch endlich eine Konkordanz-Regierung - einen Bundesrat - bekommen, wie die Schweiz.

Stolz sind wir auf das Modell unserer parlamentarischen Demokratie. Und das zu Recht. Seit 1949 sind wir damit in der Bundesrepublik gut gefahren. Gewöhnt haben wir uns daran, dass eine Mehrheit das Sagen hat und die Minderheiten die Rolle der Opposition wahrnehmen. Sie sollen die Regierenden kontrollieren und dafür sorgen, dass sie ihre Macht nicht missbrauchen und die Rechte und Anliegen der Minderheiten nicht missachten. Sie sollen Regierungswechsel möglich machen. Dass durch die Fünfprozentklausel und die Nichtwähler mittlerweile ein wachsender Teil der Bevölkerung (2013 fast 44 Prozent!) gar nicht mehr im Parlament vertreten ist, ist ein spezielles Problem.

Das was bei uns bisher gut funktioniert hat, eignet sich als Exportmuster und weltweites Modell für die Organisation der staatlichen Macht aber offenbar wenig. Da genügt ein Blick auf die verfahrene Situation in den Vereinigten Staaten, wo sich die jeweiligen Mehrheiten in den  beiden Kammern zum Nachteil des Landes blockieren. Aber spätestens seit den jüngsten Vorgängen in Ägypten merken wir, dass es nicht reicht, in freien Wahlen eine Mehrheit der Stimmen zu gewinnen. Wenn die Mehrheiten die Interessen der Minderheiten nicht respektieren und die Minderheiten nicht gewohnt und gewillt sind, sich dem Votum der Mehrheit zu fügen, dann ist der Konflikt programmiert. Das ist als Problem in der Demokratie-Theorie-Debatte nicht unbekannt. Beispiele hierfür haben wir überall auf dem Globus. Im früheren Jugoslawien, in Palästina, in Algerien, in Uganda oder in Afghanistan. Dort, wo Stammeskulturen herrschen, kann es keine gedeihliche Vorherrschaft eines zahlenmäßig größeren Stammes über die kleineren geben. Es braucht offenbar eine "Loja Dschirga", einen großen Rat, in dem alle Stimmen gehört werden und ein Interessenausgleich gelingt.

Und damit zurück nach Deutschland: Wie kommt es, fragen viele, dass eine deutliche Mehrheit der Menschen eine große Koalition wünschen. Ich sehe vor allem zwei Gründe. Die jüngsten Erfahrungen mit der schwarz-roten Koalition waren für sie positiv. Unvergessen der gemeinsame Auftritt von Angela Merkel und Peer Steinbrück zum Höhepunkt der jüngsten Finanzkrise und ihr Versprechen, die Sparkonten seien sicher. Da spielte es keine Rolle, ob das "wahr" war. Es war erfolgreich. Und wichtiger noch die zweite "gute Erfahrung". Der Umgangston der Damen und Herren Volksvertreter war plötzlich so viel angenehmer und sachlicher. Ich bezweifle, dass die Menschen die herablassende und beleidigende Art und Weise wirklich schätzen, in der Regierende und Opposition aufeinander eindreschen. Politik ist kein Kick-Boxen. Dafür sind die Fragen, um die es geht, zu wichtig für die Menschen und ein gewisser "Nationalstolz" mag auch eine Rolle spielen.

Was folgt daraus? Sicherlich nicht das Modell des "wohlmeinenden Diktators" wie man es gelegentlich hört. Und auch keine Wahl-Monarchie oder das chinesische Modell, das Helmut Schmidt so gut zu finden scheint. Aber es ist kein Zufall, dass eine der ältesten Demokratien der Neuzeit, die schweizerische Eidgenossenschaft, seit Jahren mit einer Konkordanz-Regierung lebt, dem Bundesrat, in dem alle großen Parteien und Köpfe aus den drei Landesteilen vertreten sind. Nach dem deutschen Demokratieverständnis mag das eher "undemokratisch" und fortschrittshemmend wirken.

Und tatsächlich mahlen die politischen Mühlen in der Schweiz eher gemächlich. Aber es funktioniert. Es bildet die Einsicht ab, dass keiner im Besitz der definitiven Wahrheit ist, wie die Probleme, die wir alle sehen, zu lösen sind. Und ist es nicht im Grunde besonders demokratisch? Es setzen sich damit auch die Vorstellungen und Forderungen der Minderheiten durch. Ein Beispiel: Das System der schweizerischen Rentenversicherung in diesem "kapitalistischen Land" ist weitaus sozialer als das Deutsche. Es kennt keine Nicht-Versicherten, keine Bemessungsgrenzen für die Beiträge aber Mindest- und bescheidene Maximalrenten für alle. Ein großes Stück Umverteilung!

Ist das nicht auch für Europa ein brauchbares Modell?

Das in den letzten Wochen bei uns so oft gehörte Getöne von dem notwendigen "Politikwechsel" - in einem Land, in dem es den meisten recht gut geht -, wirkt dort noch demagogischer. Es geht also um eine sorgfältige Ausbalancierung der unterschiedlichen politischen Ziele und Interessen. Und vollständig wird das Bild dieses sensiblen politischen Systems erst, wenn die ausgeprägte föderale Struktur der Schweiz und die ausgeprägten direktdemokratischen Elemente mit beachtet werden. Schon Karl Popper hatte mehr Sympathie für eine wirksame "Entlassungsgewalt" der Bürger als für eine Mehrheitsherrschaft. Ist das nicht auch für Deutschland - und Europa - ein brauchbares Modell?

Heik Afheldt ist ehemaliger Herausgeber des "Tagesspiegels".
Heik Afheldt ist ehemaliger Herausgeber des "Tagesspiegels".

© Mike Wolff

Europa, habe ich in den letzten Jahren häufig gesagt, ist noch nicht reif für den Beitritt der Schweiz. Vielleicht sind die Signale, die angesichts der wachsenden Europa-Skepsis jetzt aus Brüssel kommen, dass vieles nicht ganz oben – in Brüssel – und manches gar nicht geregelt werden muss,

ein verheißungsvolles Signal. Das Prinzip der Subsidiarität war einst eine der wichtigsten Grundregeln bei der Geburt Europas. Und das Modell von Allparteien-Regierungen – oder großer Koalitionen – muss auch nicht des Teufels sein. Ich denke, es hat Zukunft. Ein bisschen von der Schweiz lernen statt sie mit der Kavallerie anzugreifen, warum nicht? Es ist nicht alles nur Käse, was von dort kommt.

Heik Afheldt

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