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Meinung: Die Seuche der verlorenen Zeit

Den Start hat die Regierung verschlafen. Jetzt kommt sie langsam in Schwung

Wenn man gemein sein möchte, dann kann man sagen, dass wir uns die Zeit zwischen der Bundestagswahl und heute hätten schenken können – politisch gesehen. Denn die parlamentarische Sommerbilanz dieser 15. Legislaturperiode fällt ernüchternd aus: der Bundestag hat in den vergangenen neun Monaten kein einziges Gesetz verabschiedet, dass auch nur den Hauch von Bedeutung oder Zukunft atmet. Ein bisschen wenig für eine Startphase. Heißt es doch, gerade zu Beginn einer Wahlperiode müsse am meisten bewegt werden, weil da die nächsten Wahlen noch weit weg und die Ängste, sich beim Bürger unbeliebt zu machen noch nicht so groß sind. Denkste.

Die beiden wichtigsten Gesetzesvorhaben der vergangenen Monate, das unaussprechliche Steuervergünstigungsabbaugesetz und das Zuwanderungsgesetz scheiterten kläglich. Sie passierten zwar den Bundestag, wurden von der Unionsmehrheit im Bundesrat aber endgültig gestoppt. Wobei es um das Zuwanderungsgesetz durchaus, um das andere nicht wirklich schade ist. Natürlich wurden auch Gesetze beschlossen. Aber die meisten davon sind längst schon dem Gedächtnis entschwunden. Zu den positivsten Änderungen zählt noch jener Teil des Hartz-Pakets, der eine Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Reform der Leiharbeit vorsieht. Den Stempel „mutig“ hat auch die Streichung von Vergünstigungen bei der Ökosteuer und die Änderung des Ladenschlussgesetzes verdient, nach der wir auch an Sonnabenden länger einkaufen können. Aber das waren eher Randmaßnahmen – sollte man machen, muss man aber nicht. Vor der wirklichen Aufgabe aber, dem Strukturwandel in den sozialen Sicherungssystemen, hat sich die Regierung zu Beginn gedrückt. Das noch im Dezember verabschiedete Beitragssicherungsgesetz für Renten- und Krankenkasse diente noch der weiteren Subventionierung eines längst maroden Systems, nicht dessen Umbau.

Nun kann man über diese faktische Bilanz zwar trefflich klagen – aber ganz so sinnlos war die Zeit seit Mitte Oktober dann doch nicht. Denn wie in jedem Scheitern eine Chance liegt, hat gerade diese magere Zwischenbilanz eine neue Reformdynamik herbeigezaubert, die man lange Zeit kaum erwarten konnte. Spätestens im Februar, vielleicht schon zur Weihnachtszeit ist dieser Regierung bewusst geworden, dass sie so taten- und mutlos, so uninspiriert, so ohne eigenes Projekt nicht weiterwurschteln kann. Es scheint, als seien Schröder und Co irgendwann aus ihrer Tiefschlafphase erwacht. Noch ist keines der Agenda-2010-Gesetze umgesetzt – aber wenigstens am Willen scheint es nicht länger zu fehlen.

Zudem ist wichtigen Unionisten inzwischen klar geworden, dass es keine Strategie von Dauer ist, den anderen plump auflaufen zu lassen, sich ins Wartehäuschen zurückzuziehen und dem Land bei der Verelendung zuzusehen. Sie besinnen sich allmählich wieder auf ihren Wahlslogan „Zeit für Taten“ – auch wenn die Taten jetzt nicht unter ihrer Federführung, sondern unter ihrer konstruktiven Mithilfe begangen werden. So könnte dem gesetzesarmen Start ein Reformmarathon in der zweiten Jahreshälfte folgen – wenn die Beteiligten nicht über die Sommerwochen in ihren Tiefschlaf zurückfallen.

Markus Feldenkirchen

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