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Meinung: Die Stadt-Partei

Um mehrheitsfähig zu bleiben, braucht die SPD die Metropolen / Von Klaus Wowereit

Städtische Ballungsräume sind Seismografen. In den großen Städten sieht man schon heute, wohin sich unsere Gesellschaft morgen entwickeln wird. Ob wir es schaffen, „Made in Germany“ als Markenzeichen eines innovativen Landes der Ideen zu bewahren, ob wir eine weltoffene Atmosphäre ausstrahlen und kreative Köpfe aus aller Welt anziehen, und ob es gelingt, neuen Zusammenhalt zwischen den Generationen zu stiften: All dies wird sich zuallererst in den Städten entscheiden. Hier kündigen sich gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen an, hier entsteht das „Neue“ schneller und vergeht das „Alte“ eher.

Städte sind Orte der Entscheidungen und der verdichteten medialen Kommunikation. In den urbanen Milieus bilden sich Meinungen und prägen sich Einstellungen, die auf die Gesellschaft als Ganzes ausstrahlen. Auch die Mehrheitsfähigkeit der Parteien zeichnet sich als Erstes in den Metropolenräumen ab. So waren die deutschen Sozialdemokraten historisch gesehen immer dann stark, wenn sie sich auf die großen Städte und ihre prägenden Milieus stützen konnten, wenn sie sich gleichzeitig als Katalysator für gesellschaftliche Reformen verstanden und diese energisch vorantrieben.

Das war im 19. Jahrhundert so, als die Arbeiterbewegung in den Städten ein engmaschiges Netz an Selbsthilfeorganisationen, Kultur-, Bildungs- und Sportvereinen schuf, und als sie hier soziale Rechte erkämpfte. Auch in Zukunft wird der Erfolg der Sozialdemokratie davon abhängen, ob die SPD die bestimmende Kraft in den Metropolen ist. Es ist daher überraschend, dass die Städte im Entwurf zum SPD-Grundsatzprogramm bisher noch kaum vorkommen.

Die großen Städte sind die Motoren unserer Volkswirtschaft. 23 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden in den 14 größten Städten Deutschlands produziert. Die Wirtschaftsleistung liegt hier im Durchschnitt um gut 15 Prozent höher als im Rest des Landes, in den Städten leben 57 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten

Die Metropolenräume liefern die Ressourcen für die Gesellschaft von morgen: Weit über ihren eigenen Bedarf hinaus bilden sie an ihren Hochschulen den wissenschaftlichen Nachwuchs aus; sie sind Zentren der Kultur und ziehen Menschen aus allen Richtungen an. Ein Großteil der Integrationsleistungen wird in den großen Städten erbracht. Den Trend zu wissensbasierten Industrien, zur Dienstleistungs- und Kreativwirtschaft können wir hier ebenso beobachten wie die Veränderungen durch Integration, Migration und den demografischen Wandel.

Eine SPD, die sich der zivilisatorischen Leistungen der „europäischen Stadt“ bewusst ist, muss die Städte als Orte der Innovation, der Kreativität und der Integration stärken. Die europäische Ebene schickt sich an, über die städtischen Dienstleistungen („Daseinsvorsorge“) zu entscheiden und damit den Kommunen einen wichtigen Teil ihrer Gestaltungsmöglichkeiten zu entziehen. Hier müssen wir gegensteuern. Die Städte brauchen eine verlässliche und von politischen Konjunkturen unabhängige Finanzierungsbasis. Sie brauchen aber auch die Freiheit, selbst über ihre kommunalen Angelegenheiten zu entscheiden.

Nötig ist ein „Dritter Weg“: Weder blinde Privatisierungspolitik ist das Allheilmittel noch blinde Staatsfixiertheit. Entscheidend sind nicht die Eigentumsverhältnisse, sondern die Qualität der Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger, also der Wasserversorgung, des öffentlichen Verkehrs oder des Gesundheitswesens. Darüber kann am besten vor Ort in den Städten entschieden werden.

Die Städte brauchen politische Rückendeckung bei der Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen, die über kurz oder lang auf die ganze Republik zukommen. Eine der wichtigsten Fragen der nächsten Zeit ist, wie unsere Gesellschaft mit dem Älterwerden umgeht, gerade in den hoch individualisierten städtischen Ballungsräumen, wo Familien häufig nicht mehr den traditionellen Halt bieten.

Es gilt erstens, die Chancen eines längeren Lebens zu nutzen. Notwendig sind verlässliche Rahmenbedingungen für eine älter werdende Gesellschaft – mit generationenübergreifenden Wohnformen, mit neuen Bildungsangeboten, die dem Anspruch des „lebenslangen Lernens“ gerecht werden, mit neuen, nützlichen Betätigungsfeldern für aktive Senioren. Es geht zweitens darum, der Vereinzelung im Alter entgegenzuwirken und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Unsere Gesellschaft muss lernen, ältere und dabei besonders die pflegebedürftigen Menschen wieder in ihre Mitte zu nehmen, ihnen ein Leben in Würde zu ermöglichen, auch in den letzten Tagen und Stunden des Lebens.

Den sozialen Fortschritt zu fördern, das ist die historische Mission der Sozialdemokratie. In welche Richtung sich unsere Gesellschaft bewegt, entscheidet sich in den Städten. Hier entscheidet sich auch die Mehrheitsfähigkeit der SPD auf Bundesebene. Deshalb muss die SPD-Programmdebatte sich dem Lebensraum Stadt zuwenden.

Der Autor ist seit 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin.

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