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Meinung: Die UN-Reform geht ganz Europa an

Aber die EU hat noch nicht gesagt, wie sie sich die neue UN vorstellt Von Hans-Dietrich Genscher

Die von UNGeneralsekretär Annan eingesetzte Gruppe für die Reform der Vereinten Nationen wird bis zum Dezember ihre Vorschläge präsentieren. Annan wird dazu Anfang 2005 Stellung nehmen. Zu den wichtigen Elementen der Reform gehört auch die des Weltsicherheitsrates.

Dazu sind zwei Feststellungen zu treffen. Erstens: Die derzeit fünf ständigen Mitglieder haben eine historisch begründete und politisch legitimierte Stellung; ihre Mitgliedschaft kann nicht in Frage gestellt werden. Zweitens: Die Zahl der ständigen und nichtständigen Mitglieder des Sicherheitsrates und ihre Zusammensetzung entspricht nicht mehr der Staatengemeinschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Entkolonisierung ist nahezu abgeschlossen. Neue Kraftzentren einer multipolaren Weltordnung sind entstanden. Regionale Zusammenschlüsse sind wichtige Faktoren globaler Stabilität – die UN-Charta erkennt das ausdrücklich an. Die EU ist der in jeder Hinsicht am weitesten fortgeschrittene Zusammenschluss, der mit 450 Millionen Menschen den größten Anteil am Sozialprodukt der Welt und am Welthandel hat.

Die Kennzeichen unserer Zeit sind Multilateralität und die Notwendigkeit der globalen Kooperation. Unbestreitbar ist die EU mit ihrer neuen Kultur des Zusammenlebens auf der Grundlage von Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit der großen und der kleinen Länder ein Modell für eine kooperative neue Weltordnung im Zeichen von Interdependenz und Globalisierung aller Lebensbereiche.

Umso erstaunlicher ist, dass die EU ihre Erwartungen an die UN- Reform noch nicht formuliert hat – auch der Außenbeauftragte Javier Solana schweigt. Dabei wäre es gut gewesen, wenn die Reformgruppe die Meinung der EU hätte berücksichtigen können. Jetzt muss die Zeit bis zum Dezember genutzt werden, damit der Generalsekretär die Haltung Europas für seine Stellungnahme berücksichtigen kann. Es entspricht der europäischen Berufung Deutschlands und dem Grundverständnis unserer Europapolitik, dass sich die Bundesregierung um eine solche gemeinsame Position bemüht. Auch das Europäische Parlament ist aufgerufen, diese für die globale Handlungsfähigkeit der EU bedeutsame Frage zu beantworten. Das Gleiche gilt für den Deutschen Bundestag.

Außenminister Fischer hat Recht, wenn er eine außenpolitische Debatte fordert, die sich mit der Rolle Deutschlands in einer neuen Weltordnung befasst. Dazu gehört auch die Rolle in der EU und die Frage, wie Deutschland die Zusammensetzung des künftigen Sicherheitsrates sieht.

Dass die EU im Sicherheitsrat mitreden will, zeigt Artikel 206 des Verfassungsentwurfs, wonach die Union ihre Auffassung durch den europäischen Außenminister im Sicherheitsrat vortragen will. Die Bürger Europas und auch die Welt wollen wissen, ob die EU als politischer, wirtschaftlicher, währungspolitischer und im umfassenden Sinne sicherheitspolitisch weltweit handelnder Akteur und auch als Rechtsfigur eigener Art einen ständigen Sitz im vergrößerten Sicherheitsrat anstrebt oder nicht. Fühlt sie sich ausreichend vertreten durch die beiden ursprünglichen ständigen Mitglieder Frankreich und Großbritannien, will sie es den Einzelstaaten überlassen, sich um nationale Sitze zu bewerben oder will sie die Vertretung Europas einem Mitgliedstaat übertragen, der zusätzlich zu den beiden gewachsenen in den Sicherheitsrat einzieht? Und, wenn ja, wem? Für die bevorstehende europäische Debatte ist eine klare deutsche Position ebenso dringlich wie für die internationale Debatte eine europäische.

Diese Entscheidung muss die EU schon selbst treffen. Sie kann nicht nach New York verlagert werden und auch nicht in andere Hauptstädte der Welt.

Die deutsche Haltung zu allen diesen Fragen bedeutet eine grundsätzliche Weichenstellung der deutschen Außenpolitik. Nicht nur für die deutsche UN-Politik, die seit Beginn unserer Mitgliedschaft außerordentlich erfolgreich war, sondern zuerst einmal für die deutsche Europapolitik. Die Entscheidung des europäischen Deutschlands ist nicht nur für Deutschland von Bedeutung, sondern für ganz Europa.

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