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Meinung: Die VW-Gewerkschaft

Der Arbeitskampf in Ostdeutschland zielt auf die Automobilindustrie – und geht an den Interessen der meisten Beschäftigten vorbei

Im Herbst kommt der neue Golf auf den Markt. Es ist bereits die fünfte Version dieses VW-Bestsellers, von dem seit der Einführung 1974 mehr als 22 Millionen Exemplare verkauft wurden. Der Golf wird unter anderem im sächsischen Mosel gebaut, dort, wo die IG Metall die vorderste Front im Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche aufgemacht hat. Mosel ist für die Gewerkschaft ein erstklassiges Kampfgebiet: In dem VW-Werk sind mehr als 80 Prozent der 6200 Mitarbeiter in der IG Metall; die Sachsen wissen, dass ihre Konzernkollegen in Wolfsburg für weniger Arbeit mehr Geld bekommen; sie sorgen sich ferner um ihre Arbeitsplätze, denn die Produktivität steigt in der Autoindustrie enorm. Vor allem bei einem Modellwechsel.

Auf Grund der modernisierten Produktion sowie einer engen Einbindung der Zulieferer steigt die Produktivität von Golf IV zu Golf V um mindestens zehn Prozent. Anders gesagt: Ein bestimmte Menge Arbeitskräfte hat bislang 1000 Golf am Tag gebaut; zukünftig werden es 1100 sein. Was passiert jedoch, wenn die 1100 Autos gar nicht gebraucht werden, die Nachfrage der Autofahrer wie gehabt nur für 1000 Golf reicht? In diesem Fall, bei konstanter Produktionsmenge und einer um zehn Prozent höheren Produktivität, wird ein Teil der Arbeitskräfte nicht mehr gebraucht – genau zehn Prozent der 6200 VW-Werker in Mosel werden arbeitslos.

Mit Hilfe der Arbeitszeitverkürzung will die IG Metall das verhindern und dabei an ein großes Vorbild aus der Konzerngeschichte anknüpfen. Vor zehn Jahren waren wegen schwacher Nachfrage und starker Produktivität am Stammsitz Wolfsburg bis zu 30000 Arbeitsplätze überflüssig geworden. Nur mit einer drastischen Maßnahme konnte die Massenentlassung verhindert werden. Unternehmen und IG Metall einigten sich auf die Kürzung der Arbeitszeit auf unter 30 Stunden; die Wolfsburger Vier-Tage-Woche wird seitdem immer wieder als Beispiel für die Beschäftigungseffekte einer kräftigen Arbeitszeitverkürzung angeführt. Auch in Mosel in diesen Streiktagen. Und das Argument ist ja nicht falsch. Jedenfalls nicht für die Autohersteller, deren Werke im Osten schon seit längerem produktiver sind als die im Westen. Gleichzeitig arbeiten die Ossis länger und verdienen weniger. Das schafft Verdruss bei den Benachteiligten. Vor drei Jahren traten nach der damaligen Tarifrunde 150 VWler in Mosel aus der IG Metall aus – sie waren sauer, weil ihre Gewerkschaftsfunktionäre in den Verhandlungen noch immer keinen Fahrplan zur Angleichung der Arbeitszeit rausgeholt hatten.

Jetzt, nach 1998 und 2000, läuft der dritte Versuch. Und damit es diesmal klappt, wird gestreikt. Das ist in Ordnung. Die Gewerkschaften beziehungsweise ihre Mitglieder können sich nicht mit Bettelmützen vor die VW-Tore setzen und auf eine spendable Geschäftsführung hoffen. Wenn sich die Arbeitgeber stur stellen, muss ein Streik möglich sein. Insbesondere dann, wenn die Forderung ökonomisch gerechtfertigt ist. Wie bei VW und einigen anderen großen Betrieben in Ostdeutschland. Das war’s dann aber auch. Der Osten insgesamt kann natürlich (wie der Westen auch) in diesen Zeiten einen Streik überhaupt nicht gebrauchen. Und die meisten Betriebe im Osten werden auf Sicht die längere Arbeitszeit brauchen. Wie übrigens auch sehr viele Westbetriebe: Im Schnitt arbeiten die Metallfirmen im Westen inzwischen rund 40 Stunden – obwohl der Tarif seit 1995 nur 35 Stunden vorsieht. Sehr viele Unternehmen haben – mit Zustimmung der IG Metall – die Arbeitszeit erhöht, um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Ganz zu schweigen von den Milliarden Überstunden und den länger arbeitenden Leiharbeitnehmern, die die durchschnittliche Wochenarbeitszeit nach oben treiben. Beim Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche Ost geht es also gar nicht wirklich um eine flächendeckende Angleichung an Westniveau. Am Ende des Streiks wird die IG Metall für ein paar Dutzend größerer Betriebe einen Stufenplan Richtung 35 Stunden erreicht haben. Der weitaus größte Teil der Metallunternehmen schert sich nicht weiter um den Flächentarif. Und die IG Metall wird zu einer Interessenvertretung von Konzernbelegschaften, sozusagen eine Autogewerkschaft.

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