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Meinung: Die Wahrheit des Lügners

Budapester Krawalle und das Geständnis des Premiers: Beides nützt Ungarns Regierung

Die Vorstellungskraft mag man kaum aufbringen: Angela Merkel erklärt im CDU-Parteipräsidium, die Gesundheitsreform sei ein einziger Blödsinn. In den letzten anderthalb, zwei Jahren habe ihre Partei „nur gelogen“ und es sei vollkommen klar gewesen, „dass es nicht stimmt, was wir sagen“. Und dann würde die Kanzlerin noch ergänzen: „Wir müssen wissen, was wir tun wollen. Die ersten paar Jahre werden grauenhaft sein, natürlich.“

Ferenc Gyurcsany hat den Mut aufgebracht, diese Worte auszusprechen. Und obwohl es eine späte Wahrheit war: Letztlich hat die Veröffentlichung seines Lügenprotokolls Ungarns Ministerpräsidenten den Kopf gerettet.

Vor welcher Alternative stand das Land auch als vor einem Ende der Lügen seiner Regierenden, die ihren Wählern seit Jahren Wohltaten boten, ohne darauf zu sehen, was sie kosten?

Jeder konnte es ja sehen, wie Ungarn in den vergangenen acht Jahren vom postkommunistischen Musterland zum Problemfall der neuen EU-Länder abgestiegen ist. Obwohl es an Investoren nie mangelte, ist außer der Privatisierung der Staatsbetriebe kaum eine große Reform ernsthaft angepackt worden, etwa im maroden Gesundheitswesen. Im Gegenteil: Die Staatsausgaben stiegen von Jahr zu Jahr. Schon jetzt haben die Ungarn eine höhere Steuer- und Abgabenlast zu tragen als alle Nachbarländer – inklusive dem Alt-EU-Land Österreich. 7500 ungarische Firmen haben in den letzten Jahren ihren Standort in das Niedrigsteuerland Slowakei verlagert.

Die Krise in Ungarn ist deshalb zuallererst eine moralische Krise der Regierenden – und keine Wiederholung der Ereignisse von 1956. Auch wenn das nahende Jubiläum der Revolution im Oktober viele Beobachter jetzt zu Vergleichen hinreißt: Hooligans, Rechtsextreme und Enttäuschte, die gegen das Sparprogramm der Regierung demolierend durch die Straßen ziehen, haben nichts mit dem Widerstand gegen Sowjetpanzer zu tun. Vergleiche dieser Art, wie sie auch die ungarische Rechte derzeit anstellt, sind absurd – und stützen nur die Position Gyurcsanys.

Die Krawallnächte von Budapest zeigen aber noch etwas anderes. Im „Neuen Europa“ ist die Transformation der kommunistischen Systeme in marktwirtschaftliche Demokratien noch immer nicht abgeschlossen. In Tschechien kommt kaum eine stabile Regierung zustande. In der Slowakei sind rechtsradikale Populisten mit an der Macht, in Polen lavieren die Kaczynski-Brüder mit nationalistisch-antideutschen Parolen.

Dass „blühende Landschaften“ im Osten vorerst ein Mythos sind – auch Europa könnte diese Einsicht gut gebrauchen. Am kommenden Dienstag wird die EU den Beitritt Bulgariens und Rumäniens verkünden, zweier Länder, gegen deren Probleme Ungarn wie ein Hort der Glückseligen anmutet, und die – wenn überhaupt – erst nach Jahrzehnten und vielen EU-Milliarden westliche Standards erreichen werden. An der neuen Wahrhaftigkeit aus Budapest kann sich Brüssel deshalb ruhig ein Beispiel nehmen.

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